Die Verbrechen von Frankfurt. Frevlerhand
dieses, mal jenes weh. Bin ich unter Menschen, so will ich am liebsten fliehen. Bin ich es nicht, so fühle ich mich einsam. Ich habe zu nichts Lust, aber Unlust im Überfluss. Was ist denn nur mit mir?»
Der Grabstein blieb stumm, keine Stimme erreichte Gustelies, und sie hatte das auch gar nicht erwartet. Seufzend klaubte sie ein paar Unkräuter und Blätter vom Grab, dann verabschiedete sie sich von ihrem Mann und schlurfte, noch müder und trostloser, über den Friedhof, nicht bereit, zurück nach Hause zu gehen. Sie las die Inschriften auf den Grabsteinen und stellte sich einen Augenblick lang vor, selbst dort zu liegen. Sie wäre wieder bei ihrem Mann, hätte keine Wünsche und keine Sorgen, keine Schmerzen und kein Alter.
Dann erschrak sie über ihre Gedanken. Wenn sie tot wäre, fiel ihr ein, dann würde sie ihre Enkel nicht mehr aufwachsen sehen, es wäre keiner da, der sich um den Pater kümmerte, und auch Hella, ihre Tochter, brauchte sie sicherlich noch, auch wenn im Augenblick davon nicht allzu viel zu spüren war. Ja, Gustelies war sich sicher, dass sie auch ihre Freundin Jutta und vielleicht sogar Mutter Dollhaus vermissen würde.
Sie schüttelte sich, schaute in die Sonne und versuchte, das Leben schön zu finden, aber es gelang ihr heute einfach nicht.
Am Rande, an der Mauer, da, wo normalerweise die Honoratioren der Stadt begraben wurden, war eine Grube ausgehoben. Neugierig trat Gustelies heran, als könnte das schwarze Loch Auskunft darüber geben, wessen Heimstatt es sein würde.
Sie beugte sich über den Rand – und schrie gellend auf. Vor Schreck ließ sie ihren Weidenkorb fallen. Dann presste sie sich eine Hand auf den Mund, die andere auf ihr wie rasend schlagendes Herz und sah sich nach allen Seiten um. Der Friedhof war leer, kein Mensch zu sehen, nicht einmal ein paar streunende Katzen. Verwirrt kniff Gustelies die Augen zusammen, riss sie wieder auf und trat noch einmal dicht an die Grube heran. Doch das, was sie gerade gesehen hatte, war noch da. In dem Grab lag eine junge Frau im weißen Kleid. Ohne Sarg, ohne Leichentuch, sondern einfach nur in einem Kleid. Auf ihrer Stirn war etwas … Gustelies schaute genauer hin. Jemand hatte der Toten, offenbar mit Asche, ein Kreuz auf die Stirn gemalt. Und das Gesicht dieser Frau, sie war fast noch ein Mädchen, kam Gustelies seltsam bekannt vor. Das heufarbene Haar, welches rechts und links neben ihr drapiert war, und die Gesichtszüge riefen in Gustelies Erinnerungen wach, die sie heute schon einmal heimgesucht hatten. Und dann wusste sie, wer die Tote war: Adele, Henn Goldschlags Tochter. Und sie lag im Grab der Familie von Zehlen, von denen es hieß, sie habe für den Türkenkrieg allein zwanzig Mann und einen Wagen aufgestellt.
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Kapitel 5
G ustelies hastete durch die Straßen, als sei der Teufel hinter ihr her. Sie rannte am Eckenheimer Turm vorbei, beachtete den Gruß des Turmwärters nicht, blieb in der Bleichstraße stehen und musste sich an einer Hauswand abstützen. Ihr Herz raste, ihr Atem ging keuchend, und das Kleid klebte ihr nass auf dem Rücken.
«Was rennt Ihr so, Gustelies?», fragte ein Verlieswärter, der gerade auf dem Weg zum Turm war. «Ihr habt doch nicht etwa was geklaut?»
Er lachte keckernd über seinen Witz und ging weiter. Gustelies, noch immer ohne Atem, schüttelte ihm die Faust hinterher. Dann rang sie noch dreimal tief nach Luft und rannte weiter. Kurze Zeit später klopfte sie an der Haustür ihrer Tochter Hella.
«Kind, so mach doch auf. Um Himmels willen, es eilt!»
Nach schier endlosen Minuten kam die Magd herbeigeschlurft.
«Ja, ja», hörte Gustelies sie brummen, während der Riegel quietschend beiseitegezogen wurde. «Ein jeder hat es eilig heutzutage. Ich kann doch nicht zaubern.» Gustelies hörte sie kichern und noch etwas murmeln, bei dem der Begriff «Hölle auf Erden» mit vorkam.
«Jetzt mach schon, verflixt», schnaubte Gustelies, da ging endlich die Tür auf. Gustelies drängte die Magd fast schon unsanft zur Seite und stürmte in die Küche. Die Tür knallte gegen die Wand, das Herdfeuer flackerte, irgendwo im Haus flog ein Fenster zu.
«Mutter, pass doch auf. Die Kinder bekommen Zug!»
Hella saß am Küchentisch und gab ihrer kleinen Tochter Flora die Brust. Neben ihr stand eine Wiege, darin lag der kleine Sohn Fedor und wackelte mit Ärmchen und Beinchen. Sein Gesicht war hochrot, er blies die Backen auf und stimmte sogleich ein infernalisches Gebrüll
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