Die Verbrechen von Frankfurt. Frevlerhand
«Ich habe ein Anrecht auf das Glück, hat unsere alte Amme mir erst heute wieder gesagt.»
Dem Retter war, als hätte er einen Schlag erhalten. Er taumelte von dem Mädchen zurück, ließ um ein Haar ihr Handgelenk fahren. «Ist das wahr, was du da sagst?», fragte er.
Das Mädchen nickte. «Jeder muss sehen, wo er bleibt», erwiderte sie. «Das Leben ist zu kurz, um es mit Warten zu vergeuden.»
«Sagt das auch deine alte Amme?»
«Nein, die Mutter. Und sie hat recht. Und jetzt lasst mich gehen.»
«Warum bist du dann überhaupt gekommen?», fragte der Retter.
«Ich wollte sehen, ob Ihr womöglich noch mehr von dem Silber habt. Der Becher ist wunderhübsch. Es würde gut passen, wenn ich ein halbes Dutzend davon hätte.»
Plötzlich wurde dem Retter schwarz vor Augen. Seine Traumbilder stiegen in ihm auf. Er sah auf dem Boden liegende Männer, denen das Blut aus Mündern und Ohren quoll, die vor Schmerzen nicht mehr bei Sinnen waren und doch das zarte Haarband der Liebsten in ihrer Faust hielten, als bräuchten sie nur das, um alle Qualen zu überstehen. Er hörte ihre Schreie. Mädchennamen. Die Namen der Liebsten als letztes Wort, als letzten Schrei. Er wusste kaum, was er tat, als er das Mädchen zu Boden stieß, ihr den Becher entriss, dorthinein aus einer Kanne einen Sud füllte und ihm dem Mädchen an den Mund hielt.
Sie wollte den Kopf abwenden, aber schon hatte er ihr Kinn gepackt, den Kopf nach hinten gedrückt und ihr den Becher so heftig an die Lippen gelegt, dass sie blutete. Das Mädchen öffnete den Mund zum Schrei, da goss er hinein, was im Becher war, hielt ihr die Nase zu, kniete über ihr, bis sie endlich schluckte und schluckte. Der Retter hielt sie, als sich ihr Körper in Krämpfen wand, als weißliche Flocken aus ihrem Mund quollen, er kniete über ihr, hielt ihre Arme, als sie plötzlich erschlaffte unter ihm. Und er hielt sie auch so, als sie ihren letzten Atemzug tat.
Dann endlich stand er auf, wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er holte aus einem alten Futtersack ein weißes Kleid und zog es ihr an. Als Nächstes verbrannte er ein wenig Papier, um mit der Asche ein Kreuz auf ihre Stirn zu malen. Von einem Busch in der Nähe pflückte er eine gelbe Rose. Dann packte er sich das Mädchen über die Schulter und warf sie hinter der Friedhofsmauer auf ungeweihtem Boden in einen Abfallgraben, sodass das weiße Kleid der Unschuld über und über beschmutzt war. Zwischen die Hände drückte er ihr die gelbe Rose.
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Kapitel 29
H ella, Heinz und Jutta waren gerade eingetroffen, als es an der Pfarrhaustür erneut klopfte.
«Wer kommt denn jetzt noch?», wollte Gustelies wissen.
Heinz Blettner sprang auf und riss die Tür zur Vorratskammer auf. «Falls es der Schultheiß ist und er nach dem Ratssilber fragt, dann sage ihm gleich, dass ich nicht da bin und auch nicht kommen werde und du auch nicht weißt, wo ich derzeit bin.»
«Das kommt nicht in Frage», schimpfte Gustelies und drückte Blettner zurück auf seinen Stuhl. «Du wirst ja wohl nicht kneifen, oder?»
Dann öffnete sie die Tür.
«Ich bitte um Entschuldigung, gnädige Frau», sagte der junge Mann, der vor ihr stand und eine Novizenkutte der Antoniter trug. «Mein Name ist Alter. Ihr Herr Bruder war so freundlich, mich heute zum Abendessen einzuladen. Leider habe ich mich ein wenig verspätet.»
«War er so freundlich?», fragte Gustelies verblüfft.
«Ja. In der Tat.» Der junge Mann streckte Gustelies ein kleines Sträußchen aus Wiesenblumen entgegen, in dessen Mitte zwei rosa Buschrosen prangten. «Bitte schön, die sind für Euch.»
Und wie der Schnee in der Sonne, so schmolzen auch Gustelies’ Vorbehalte gegen einen weiteren Gast. «Dann kommt herein. Es gibt Weckewerk, ein Gericht …»
«… aus Schweinszutaten, mit viel Majoran daran und gebrüht, dann mit Zwiebeln in der Pfanne gebraten.» Die Augen des jungen Mannes leuchteten, dass Gustelies auflachte. «Dazu Bier oder Rotwein. Ich nehme ein Bier, wenn es gestattet ist.»
Gustelies nickte und führte den jungen Mann in die Küche. Mit gerunzelter Stirn stellte sie dabei fest, dass der Novize einen halben Acker an seinen Schuhen haben musste, denn dort, wo er gegangen war, blieben schwarze Erdklumpen zurück. Wo kommt er denn jetzt her?, überlegte Gustelies. Wo in aller Welt kann sich ein Novize so schmutzig machen? Doch sie kam nicht dazu, ihn danach zu fragen, denn Bruder Göck stellte den jungen Mann gerade der Tischrunde
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