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Die Verdammten der Taiga

Die Verdammten der Taiga

Titel: Die Verdammten der Taiga Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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gesehen hatte. »45 Jahre lang will er allein gewesen sein!« sagte Putkin. »Aber eine Werkstatt hat er wie ein Dorfschmied! Fischt man so etwas aus dem Fluß, he? Ein alter Gauner ist unser heiliger Mann!«
    »Können wir uns endlich losreißen?« fragte Putkin jetzt. »Nadeshna, noch ein Gebetchen?«
    Morotzkij legte den Arm um Nadeshna und drehte sie um zum Wald. »Komm –«, sagte er mit einer Zärtlichkeit, die plötzlich allen ins Herz drang, sogar Putkin. »Komm, mein Täubchen … im Süden ist es wärmer –«
    Es war eine dumme Rede, aber jeder verstand sie. Im Süden! Dort lag das Leben. Am Ende dieses Flusses, irgendwo, hörte die Taiga auf. Was dann geschehen würde, wußte niemand. Es lag eigentlich alles in Putkins Hand: Der heimliche Mörder und Verhaltensforscher Professor Morotzkij, die angesehene Lehrerin Nadeshna Iwanowna Abramowa, die heimlich eingeschmuggelte Bibeln verteilte und Priester in allen möglichen Verkleidungen und Berufen in die Dörfer schleuste, die Ärztin Jekaterina Alexandrowna Susskaja, die Arbeit und Vaterland verriet wegen eines Mannes, und der Deutsche Andreas Herr, der in diesen Strudel von Schicksalen hineingerissen wurde und mitschwimmen mußte.
    »Verdammt!« schrie Putkin und knirschte mit seinen breiten Skiern durch den Schnee. »Ist hier denn keiner, der die verfluchte Glocke zum Schweigen bringt? Ich kann's nicht mehr hören!«
    Er begann zu singen, blähte dabei die Brust auf und orgelte die Töne aus sich heraus, aber er übertönte das Scheppern der armseligen Glocke nicht. Erst als sie tief im Wald über den Schnee glitten, neben sich, wie in einer Schlucht, das jetzt zugefrorene Eisband des Flusses, wurde der Glockenton von der Stille der Taiga aufgesogen, wie alles hier in der Unendlichkeit von Himmel und Wald seinen Klang verlor und nur eines übrigblieb: Das weiße, erstarrte, herzergreifende Schweigen Sibiriens.
    Es wurde ein höllischer Marsch.
    Zehn Tage zogen sie am Fluß entlang, und jeder Tag verdoppelte die Qual. Immer ging es bergauf, nicht steil, sondern sanft und stetig, und das war es, was so zermürbte. Die Lasten auf dem Rücken krümmten die Körper nach vorn, die Lungen keuchten, Morotzkij begann wieder, schauerlich beim Atmen zu pfeifen, und hustete in den letzten drei Tagen fast bei jedem Schritt, blieb zurück, lehnte sich an die vereisten dicken Stämme und rollte mit den Augen.
    »Semjon Pawlowitsch wird sich die Lunge auskotzen«, sagte Putkin am neunten Tag. »Ich kann ihm nicht helfen.«
    »Ihr Tempo ist gemein, Igor Fillipowitsch.« Auch Andreas hatte Mühe, an Putkins Seite zu bleiben. Meistens liefen sie ein paar Meter voraus und brachen durch den hohen Schnee die Spur, auf der die anderen leichter dahingleiten konnten. »Morotzkij ist krank, das wissen Sie. Sein Körper ist geschwächt.«
    »Langsamer als bisher geht's nicht.« Putkin wartete wieder, bis Morotzkij nachgekommen war. Er schwankte auf seinen Skiern wie ein Betrunkener. »Merken Sie nicht, wie's immer kälter wird? Wir müssen Kilometer fressen, Andrej! Was glauben Sie, was von uns übrigbleibt, wenn wir in die Zeit der Stürme hineingeraten? Hier oben gibt es menschliche Siedlungen, ich glaube jetzt fest daran. Woher käme sonst der wildernde Hund?«
    Die Nächte reichten kaum aus, sich von der Erschöpfung des Tages zu erholen. Meistens suchten sie sich einen windgeschützten Hang, wo sie dann ihre Zeltplanen von Baum zu Baum spannten, den Schnee wegschaufelten, und da man überall unter dem Schnee Steine fand, konnte man sich jeden Abend einen kleinen Ofen bauen und das Holz verbrennen, das Nadeshna als zum ›Hausrat‹ gehörend auf dem Rücken mitschleppte. Armlange Scheite, die jeden Abend erneuert wurden. Das hatte Andreas übernommen. Er schlug mit der von Kyrill gestohlenen Axt dicke Äste ab, spaltete sie und legte sie zum Trocknen rund um den Ofen. Am Morgen waren sie dann trocken genug, daß man mit ihnen das nächste Abendfeuer entfachen konnte.
    Wölfe hörten sie nur von ganz fern … es war das langgezogene, klagende Heulen, das sich selbst dem Mutigsten schwer aufs Herz legt. Dafür scheuchten sie Hermeline und Marder in Massen auf, Schneehasen hoppelten vor ihnen her, und einmal überquerten sie die Fährte eines Luchses. Das sagte Morotzkij, als er die Abdrücke im Schnee untersuchte, und er mußte es ja wissen als Tierforscher.
    Es waren stille, eisige und merkwürdig helle Nächte. Putkin schnarchte immer als erster, die Beine zum Feuer, den Kopf

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