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Die Verfluchten

Die Verfluchten

Titel: Die Verfluchten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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Mindestens verschwieg sie ihnen etwas, und das war fast ebenso schlimm,
als hätte sie ihn belogen.
»Vielleicht hast du sogar Recht«, räumte er widerwillig ein. »Lass
uns morgen darüber nachdenken.«
»Damit dir noch ein paar Gründe einfallen, um sie zu verteidigen?«,
fragte Abu Dun böse.
»Weil ich einfach müde bin«, erwiderte Andrej. Vielleicht verriet
der Ton seiner Stimme Abu Dun, dass das die Wahrheit war, vielleicht gingen ihm auch nur die Argumente aus. So oder so, er beließ
es bei einem letzten, ärgerlichen Schnauben und fasste sich ebenso
wie Andrej in Geduld, bis Meruhe zurück war.
Allzu lange mussten sie nicht warten. Schon nach einer kurzen
Weile hörten sie ihre Schritte näher kommen, aber es waren nur ihre Schritte, nicht die eines weiteren Mannes, vielleicht des Besitzes der
Karawanserei oder eines Dieners, der kam, um sich nach ihren Wünschen zu erkundigen. Dennoch strahlte Meruhe Zuversicht aus, als
sie zwei Schritte vor ihnen stehen blieb. »Es ist alles in Ordnung«,
sagte sie. »Wir können über Nacht hier bleiben.«
»Über Nacht?«, wunderte sich Andrej. »Ich dachte, wir reiten
gleich weiter.« Im Stillen fragte er sich, warum er das überhaupt sagte. Er war noch immer so müde, dass ihn der Gedanke, sofort wieder
aufbrechen zu müssen, schauderte. Dennoch fuhr er fort: »So verlieren wir noch mehr Zeit.«
»Ich weiß«, erwiderte Meruhe. »Aber daran ist leider nichts zu ändern. Wir bekommen frische Tiere, aber erst eine Stunde nach Sonnenaufgang. Nutzen wir die Zeit, um uns auszuruhen und neue Kräfte zu sammeln.«
»Hier?«, fragte Abu Dun.
»Wir haben oben ein Zimmer«, antwortete Meruhe. »Es ist nicht
groß, aber für eine Nacht wird es reichen.«
Die Aussicht, auch nur eine einzige Nacht einmal nicht unter freiem
Himmel und vielleicht sogar in einem richtigen Bett verbringen zu
können, erschien Andrej geradezu paradiesisch, doch Abu Dun verschränkte nur wieder trotzig die Arme vor der Brust und schüttelte
den Kopf. »Lieber schlafe ich draußen. Bei den Kamelen.«
Andrej schluckte die bissige Bemerkung, die ihm auf der Zunge
lag, herunter, und auch Meruhe wirkte eher enttäuscht als wirklich
verärgert. Sie hob jedoch nur die Schultern. »Ganz, wie du willst.«
Dann wandte sie sich direkt an Andrej. »Aber dann sollten wir uns
gleich schlafen legen. Die Nacht ist nicht mehr lang, und der morgige
Tag dürfte sehr anstrengend werden.«
Abu Dun schien noch etwas sagen zu wollen, drehte sich dann aber
mit einem Ruck um und verschwand mit stampfenden Schritten wieder aus dem Haus. Meruhe steuerte nun rasch die steile, hölzerne
Treppe an, die sie gerade herabgekommen war. Andrej folgte ihr,
wenn auch abermals mit einem deutlichen Gefühl schlechten Gewissens Abu Dun gegenüber.
Was war nur mit ihm los? Er benahm sich wie ein Knabe, der die
ersten, schüchternen Zärtlichkeiten mit der Tochter eines Nachbarn
ausgetauscht hatte und nun in eine Verwirrung der Gefühle gestürzt
war, weil er plötzlich begriff, dass es da noch eine ganz andere, unbekannte Welt zu entdecken gab, von deren Existenz er bisher nicht
einmal etwas gewusst hatte.
Die Treppe endete auf einem schmalen, unbeleuchteten Gang, an
dessen Ende das winzige Zimmer lag, von dem Meruhe gesprochen
hatte. Es gab kein Bett, sondern nur zwei einfache Lager aus strohgefüllten Säcken auf dem nackten, hölzernen Boden. Das einzige Licht
kam durch eine Öffnung in der Decke, von der der Besitzer dieser
Bruchbude vermutlich behauptete, es handele sich um ein Dachfenster, die in Wahrheit jedoch nichts anderes als ein simples Loch war.
Meruhe streifte ihren Mantel ab und ließ sich ohne ein weiteres Wort
auf das schlichte Lager sinken, und Andrej tat es ihr gleich. Sein
Hinterkopf hatte den rauen Sack noch nicht berührt, da schlug die
Müdigkeit wie eine bleierne Woge über ihm zusammen, und hätte er
ihr nachgegeben, wäre er zweifellos im gleichen Moment in tiefen
Schlaf gesunken. Stattdessen kämpfte er das Bedürfnis mit aller Willenskraft nieder, stemmte sich auf den linken Ellbogen hoch und
drehte sich so, dass er Meruhe ins Gesicht sehen konnte. Sie hatte die
Augen geschlossen und tat so, als wäre sie bereits eingeschlafen,
aber er spürte, dass das nicht so war.
»Ja, damit hast du sogar Recht«, sagte sie, ohne die Augen zu öffnen. Ihre Stimme hatte den leicht gereizten, zugleich auch geduldigen Klang einer Mutter, die einem uneinsichtigen Kind etwas zu erklären versucht,

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