Die Verfluchten
Stunde vor Sonnenuntergang erreichten sie eine
Stelle, an der sich gewaltige Felsen am Ufer auftürmten, sodass sie
abermals einen großen Bogen schlagen mussten. Meruhe führte sie
anschließend jedoch nicht wieder zum Flussufer zurück, sondern
geradewegs in östliche Richtung, und damit wieder tiefer in die Wüste hinein.
»Das ist nicht der Weg zu deinem Dorf«, sagte Abu Dun nach einer
Weile vollkommen überflüssigerweise.
»Ich weiß«, erwiderte Meruhe. »Es wäre ja auch ein bisschen
merkwürdig, oder? Schließlich ist das Dorf auf der anderen Flussseite.« Weder ließ sie ihr Kamel langsamer laufen noch drehte sie sich
auch nur zu Abu Dun um.
»Das ist nicht einmal die richtige Richtung«, beharrte Abu Dun
nörgelnd. »Also erzähl mir nicht, es wäre eine Abkürzung - es sei
denn, du willst wieder einmal durch irgendwelche Schatten gehen.«
Diesmal sah Meruhe zu ihm zurück. Die Andeutung eines spöttischen Lächelns erschien auf ihrem Gesicht, doch Andrej war sicher,
zugleich einen Ausdruck von nur mühsam unterdrückter Sorge in
ihren Augen zu lesen. Oder war es Angst? »Siehst du hier irgendwelche Schatten?«, erkundigte sie sich.
Abu Duns Blick wurde nur noch finsterer. Noch bevor sich Andrej
einmischen konnte, fuhr Meruhe mit einem Kopfschütteln und in
versöhnlicherem Ton fort. »Ich muss etwas… erledigen.«
»Hier?«, fragte Abu Dun stirnrunzelnd. »Dieser Weg führt uns direkt in die arabische Wüste hinein - und mit jedem Schritt weiter weg
von deinem Dorf.«
»Es ist nicht sehr weit.« Meruhes Blick streifte kurz Andrejs Gesicht und suchte dann wieder den des Nubiers. »Aber du hast natürlich Recht. Bei dem, was ich zu tun habe, könnt ihr mir ohnehin nicht
helfen. Ihr könnt hier auf mich warten, wenn ihr wollt. Ich bin in
spätestens einer Stunde zurück.«
Abu Dun wäre nicht Abu Dun gewesen, hätte er diesen Vorschlag
auch nur in Erwägung gezogen. Er machte sich nicht einmal die Mü
he, den Kopf zu schütteln, geschweige denn, ihr zu antworten, und
auch Andrej reagierte nur mit einem angedeuteten Kopfschütteln auf
Meruhes fragenden Blick. Sie beließ es dabei, doch Andrej konnte
sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie auf diese Reaktion gehofft hatte und erleichtert war. Ein Gedanke, der ihn ganz und gar
nicht erleichterte. Schließlich hatte er gesehen, wozu diese Frau imstande war. Wenn es dort vorn irgendetwas gab, dem sie lieber nicht
allein gegenübertreten wollte, dann tat er vermutlich gut daran, sich
zu fürchten.
Es verging nicht allzu viel Zeit, bis Andrej sah, worum es sich bei
Meruhes Ziel handelte. Im ersten Moment hielt er es lediglich für
eine Ansammlung großer Felsen, die vor ihnen im Sand aufragten,
doch schon bald fiel ihm auf, dass ihre Anordnung zu symmetrisch
war, und ihre Formen trotz der glättenden Macht, mit der Wind und
Zeit ein Jahrtausend oder länger an ihnen genagt hatten, noch immer
zu kantig. Es waren Ruinen, die uralten Zeugnisse einer längst untergegangenen Kultur, von denen es in diesem Teil der Welt mehr zu
geben schien als irgendwo sonst. Andrej fragte sich, ob es überhaupt
einen Fußbreit Boden unter dem Sand gab, über den sie schritten, der
nicht irgendwann einmal umgegraben, bebaut oder sonst wie von
Menschen verändert worden war.
Meruhe näherte sich dem halben Dutzend zerfallener Gebäude bis
auf zwanzig oder dreißig Schritte, dann hielt sie ihr Kamel an, drehte
sich im Sattel nach rechts und nach links und schien nach etwas Bestimmtem zu suchen. Bevor Andrej eine Frage stellen konnte, hob sie
den Arm und deutete nach links. Als Andrejs Blick der Geste folgte,
sah er etwas, das er zunächst ebenfalls für eine Ruine hielt, dann aber
wurde ihm klar, dass sich um einen gewaltigen Felsbrocken handelte,
der aus dem Sand ragte wie die Spitze eines gewaltigen, versunkenen
Berges. Da die Sonne ihren Zenit längst überschritten hatte, warf er
einen lang gestreckten, scharf abgegrenzten Schatten, in dem seine
an die grelle Helligkeit gewöhnten Augen nichts als vollkommene
Schwärze wahrnahmen.
»Vielleicht wartet ihr dort auf mich«, sagte sie.
»Warten?«, vergewisserte sich Abu Dun.
»Ich muss allein dort hineingehen«, behauptete Meruhe.
Irrte sich Andrej, oder war der Hauch von Unsicherheit in ihrer
Stimme stärker geworden?
»Wir sind nicht so weit mit dir geritten, um dich jetzt allein gehen
zu lassen«, sagte er.
Meruhe schwang sich mit einer eleganten Bewegung vom Rücken
des Kamels, bevor sie antwortete. »Ihr könnt mir
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