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Die Verfluchten

Die Verfluchten

Titel: Die Verfluchten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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einem Dolch im Rücken. Sie trug
eines meiner Kleider.« Plötzlich konnte Andrej ihr ansehen, mit welcher Anstrengung sie um ihre Beherrschung kämpfen musste. Wenn
die Geschichte, die sie erzählte, stimmte, dann musste sie sich vor
vielen, vielen Jahrhunderten abgespielt haben, und doch drohte die
Erinnerung sie zu überwältigen. »Sie muss eines meiner Kleider angezogen und eine meiner Perücken aufgesetzt haben, um sich im
Spiegel zu bewundern, das dumme Ding. Der Mörder hat sie mit mir
verwechselt.«
»Und dann hast du sie an deiner Stelle beerdigen lassen«, vermutete
Andrej.
»Ja«, sagte Meruhe bitter. »Ich habe die Mörder ausfindig gemacht
und zur Rechenschaft gezogen, aber erst später. Es wäre sinnlos gewesen, mich weiter an den Thron zu klammern. Noch mehr Blut wäre vergossen worden, das habe ich eingesehen. Also habe ich dafür
gesorgt, dass das Grab wieder geöffnet und Ramses’ Frau in aller
Heimlichkeit so nahe bei ihm beerdigt wurde, wie es nur ging.«
Andrej ließ seinen Blick nachdenklich über den geschändeten
Leichnam schweifen. Er sagte nichts, ja, er war sogar sicher, dass er
nicht einmal in Gedanken eine Frage formuliert hatte, doch musste
Meruhe sie trotzdem erraten haben.
»Ich habe den falschen Männern vertraut«, sagte sie. »Es war noch
kein Monat vergangen, da sind sie gekommen, haben den Leichnam
geschändet und das Grab ausgeraubt, und wäre ich nicht im letzten
Moment dazugekommen, so hätten sie Ramses’ Sarkophag geöffnet
und sein Grab geplündert.« Sie trat so dicht an ihn heran, dass er den
Duft ihres Haares spüren konnte. »Ich hätte den Leichnam wieder
herrichten und auch dieses Grab wieder schmücken lassen können.
Vielleicht wäre ich es ihr sogar schuldig gewesen, denn immerhin hat
dieses arme Mädchen sein Leben für mich gegeben. Aber dann habe
ich mich entschieden, alles so zu lassen, wie es war.« Ihre Stimme
wurde noch leiser und war jetzt kaum mehr als ein Flüstern. »Ich
komme manchmal hierher, um mich zu erinnern, weißt du? Wenn
der Tod dieses armen Mädchens überhaupt einen Sinn gehabt hat,
dann vielleicht den, mir klar zu machen, wie sinnlos es ist, gegen das
Schicksal aufbegehren zu wollen.« Sie schüttelte heftig den Kopf.
»Ich habe es versucht, und zu viele haben den Preis dafür bezahlt.«
»Was genau meinst du damit?«, fragte Andrej.
Meruhe lachte, sehr leise und sehr bitter. »Ramses war ein sterblicher Mensch. Und trotzdem hat er über zweihundert Jahre über dieses Land geherrscht.«
Andrej sah sie verblüfft an. »Aber…«
»Und ich war die meiste Zeit davon an seiner Seite«, fuhr Meruhe
fort.
Es verging eine geraume Weile, bis Andrej - und selbst dann nur
mühsam, fast widerwillig - überhaupt begriff, was diese Worte bedeuteten. »Du… du willst damit sagen, dass…?«, murmelte er.
»Vielleicht will ich damit nur sagen, dass wir gar nicht so etwas
Besonderes sind, Andrej«, sagte Meruhe. »Vielleicht trägt jeder
Mensch den Keim zu dem, was aus uns geworden ist, tief in sich,
und es bedarf nur einer kleinen Anstrengung, um ihn wachsen zu
lassen.« Sie schüttelte den Kopf, und ihr Blick schien, obwohl er nun
direkt auf Andrejs Gesicht gerichtet war, in eine unendlich weit zurückliegende, unendlich traurige Vergangenheit zu fallen. »Jedenfalls
war es das, was ich damals geglaubt habe.«
»Dann hast… du…«, begann Andrej, doch Meruhe unterbrach ihn
auch jetzt wieder mit einem Kopfschütteln.
»Ich habe Ramses ein Geschenk gemacht, das zu teuer erkauft
war«, sagte sie. »Ich dachte, es wäre ein Geschenk. Ich habe viel zu
spät begriffen, dass ich nur egoistisch war. Ich wollte ihm etwas geben, aber in Wahrheit habe ich nur genommen.«
»Das ist doch Unsinn«, sagte Andrej sanft. Er spürte, wie schwer
die Erinnerung Meruhe zu schaffen machte, und schloss sie behutsam in die Arme, aus keinem anderen Grund als dem, ihr Trost zu
spenden. »Wie kannst du jemandem etwas wegnehmen, wenn du ihm
die doppelte Lebensspanne eines gewöhnlichen Sterblichen
schenkst?«
»Weil ich es nur getan habe, um ihn nicht zu verlieren«, beharrte
Meruhe. »Ich erwarte nicht, dass du es verstehst, Andrej. Auch ich
habe es viel zu spät begriffen. Ich wollte ihn nicht verlieren, und das
war der einzige Grund für das, was ich getan habe. Ich habe ihn nie
gefragt, ob er das auch wollte.«
Abermals schüttelte Andrej sanft den Kopf. »Was glaubst du, welche Antwort du bekommen hättest?«, fragte er spöttisch.

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