Die Verfluchten
»Glaubst
du, er hätte entsetzt Nein gesagt und dich angefleht, ihn nach fünfzig
Jahren an Altersschwäche sterben zu lassen? Bestimmt nicht.«
»Wahrscheinlich nicht«, antwortete Meruhe, doch ihr Blick und ihre Stimme blieben traurig. »Aber vielleicht hat es ja einen Grund,
warum Menschen normalerweise niemals vor diese Frage gestellt
werden.«
Sie löste sich aus seiner Umarmung, ging mit zwei schnellen
Schritten um das steinerne Totenbett herum und ließ sich auf der
anderen Seite in die Hocke sinken, um etwas aufzuheben. Im ersten
Moment und in dem schlechten Licht, das hier herrschte, hielt Andrej
es für einen bizarr geformten Helm. Dann wischte Meruhe mit der
Hand darüber und entfernte jahrhundertealten Staub und vermoderte
Stofffetzen, und er sah, dass es sich um eine Büste handelte. Die
Büste einer Frau mit anmutigen Zügen, deren Haar zu einer Turmfrisur hochgesteckt worden war, wie sie wohlhabende Frauen zur Zeit
der Pharaonen getragen hatten. Erst, als Meruhe sie in den Händen
drehte und er sah, dass sie dergestalt beschädigt war, dass es aussah,
als hätte man versucht, ihr das linke Auge auszustechen, fiel ihm die
Ähnlichkeit auf.
»Das bist du«, sagte er überrascht.
Meruhe nickte. »Ja. Alles, was von den Schätzen in meinem Grab
geblieben ist. Die Räuber müssen es übersehen haben - oder es erschien ihnen des Stehlens nicht wert.« Sie lachte unecht. »Schließlich
war es beschädigt.«
»Du hast mir nie erzählt, wie das mit…«, begann Andrej, brach aber dann schon wieder verlegen mitten im Satz ab.
Diesmal wirkte Meruhes Lächeln echt. »Mit meinem Auge passiert
ist?«, fragte sie. Andrej nickte, und Meruhe stellte die beschädigte
Büste behutsam auf den Rand des steinernen Bettes, bevor sie antwortete. »Das war mein Mann. Mein erster Mann. Vor sehr langer
Zeit.«
»Er hat dich geschlagen?«, fragte Andrej.
»Er war ein außergewöhnlicher Mensch«, erwiderte Meruhe, »vielleicht der außergewöhnlichste, den das Land je gesehen hat. Ganz
abgesehen davon war es eine Zeit, in der sich niemand etwas dabei
gedacht hat.«
»Wobei?«, erwiderte Andrej. »Seine Frau zu schlagen?«
»So wenig, wie es die meisten heute tun«, antwortete Meruhe. »Er
hat mich oft geschlagen, wenn er in all seiner Machtfülle glaubte,
einen Grund dafür zu haben.« Sie hob flüchtig die Hand an ihr künstliches Auge. »Es war ein Unfall. Ich glaube nicht, dass er das wollte.« Ein angedeutetes Achselzucken und ein noch flüchtigeres, kaltes
Lächeln. »Ich habe ihn trotzdem dafür getötet.«
»Aber wie ist das möglich?«, wunderte sich Andrej. »Niemand
kann uns verletzen. Jedenfalls nicht so.«
»Damals war ich noch sterblich«, erklärte Meruhe. »Er hat mich
geschlagen, und ich bin schwer gestürzt und habe nicht nur das Auge
verloren. Wochenlang lag ich mit hohem Fieber, und alle hatten mich
schon aufgegeben.«
»Und als das Fieber vorbei war…«, begann Andrej, und Meruhe
nickte und führte den Satz zu Ende. »… war ich unsterblich«, bestätigte sie. »Aber natürlich wusste ich das nicht. Es hat lange gedauert,
bis mir klar wurde, dass irgendetwas mit mir geschehen war. Und
noch sehr viel länger, bis ich begriffen habe, was.« Sie lachte leise.
»Wer weiß, vielleicht habe ich es einzig dieser Verletzung zu verdanken, dass ich zu einer Unsterblichen wurde. Vielleicht war es
ungerecht, dass ich ihn getötet habe, weil ich glaubte, er hätte mir
meine Schönheit genommen, und damit den Sinn meines Lebens.
Vielleicht sollte ich ihm dankbar dafür sein.«
»Er hat dir nicht deine Schönheit genommen«, widersprach Andrej.
»Schmeichler.« Meruhe lachte noch einmal und kam wieder auf ihn
zu. Obwohl da noch eine Spur von Traurigkeit auf ihrem Gesicht zu
erkennen war, spürte Andrej, dass der Schmerz sie jetzt nicht mehr
so vollkommen in seinem Griff hatte wie bisher.
»Warum hast du mich hierher gebracht?«, fragte Andrej. »Nur, um
mir zu zeigen…?«
»Damit du verstehst, warum ich das tue, was ich vielleicht… vielleicht tun muss«, antwortete Meruhe.
Das fast unmerkliche Stocken in ihren Worten entging Andrej ebenso wenig wie der neuerliche Schatten, der für einen Moment in
ihrem Blick flackerte und dann wieder verschwand. Er verstand
nicht, worauf sie hinauswollte.
»Es ist meine Schuld«, fuhr Meruhe fort. Sie stand wieder ganz
dicht vor ihm, so dicht, dass er ihren Atem im Gesicht spürte, als sie
weitersprach. »Manche Fehler ziehen immer nur noch
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