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Die Verfluchten

Die Verfluchten

Titel: Die Verfluchten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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wunderte er sich, dass er noch lebte.
Behutsam setzte sich Andrej auf. Er glaubte Geräusche zu hören,
war aber nicht sicher, ob es nur das Rauschen seines eigenen Blutes
und sein eigener, plötzlich rasend schneller Herzschlag war. Im ersten Moment konnte er seine Umgebung nur schemenhaft wahrnehmen. Aber immerhin fühlte er, dass er allein war. Und wieso, fragte
er sich zum zweiten Mal, war er noch am Leben? Als er in Meruhes
Armen zusammengebrochen war, war er vollkommen sicher gewesen, nie wieder zu erwachen, denn er hatte gespürt, wie sie ihn all
seiner Kraft beraubte und jedes bisschen Energie aus ihm herausriss,
sanfter, aber noch weit unbarmherziger als das Ding, das er tief am
Grunde seiner Seele eingesperrt hatte. Und hatte sie es nicht selbst
gesagt? Es tut mir Leid, aber ich brauche alle Kraft, die ich bekommen kann.
Wieso also lebte er? Hatte sie es am Ende doch nicht über sich gebracht, ihn zu töten, weil er vielleicht doch mehr für sie war als bloße
Beute?
Der Gedanke war so verlockend, dass er sich tatsächlich einige
Herzschläge lang daran festklammerte, obwohl er zugleich spürte,
dass es nicht so sein konnte. Hatte sie ihn nicht selbst immer wieder
vor sich gewarnt? Diese Frau war Tausende von Jahren alt. Sie musste Hunderte von Männern gehabt haben, und viele davon waren sicher stärker gewesen als er, klüger und ihr eher gewachsen. Auf eine
gewisse Art war sie eine Göttin, wenn auch eine, die sich auf ihre
ganz eigene Weise unter die Menschen mischte. Hatte er sich tatsächlich eingebildet, sie könne mehr als das flüchtige Interesse eines
Kindes an ihm verspüren, das ein neues Spielzeug gefunden hatte?
Dieser Gedanke tat weh, und doch war er vielleicht bisher der ehrlichste von allen.
Aber auch er brachte ihm keine Antwort auf die Frage, warum er
noch am Leben war.
Andrej sah ein, dass er diese Antwort auch nicht finden würde,
ganz gleich, wie lange er hier saß und sich den Kopf darüber zerbrach, und stand langsam auf. Die Bewegung bereitete ihm mehr
Mühe, als sie sollte. Er fühlte sich fast so schwach wie an jenem
Morgen, als er neben Meruhe aufgewacht und für einige, kurze Stunden wieder zu einem sterblichen Menschen geworden war - auf eine
schwer zu beschreibende Art vielleicht sogar noch erschöpfter. In
seinem Kopf begann sich alles zu drehen, als er sich zu hastig bewegte. Er taumelte und musste an der Wand Halt suchen, um nicht
gleich wieder auf die Knie hinabzusinken, und schon die Anstrengung, die wenigen Schritte zur Tür und hinaus auf den Gang zu tun,
war beinahe zu viel für ihn.
Erschöpft ließ er sich draußen gegen die bemalte Wand sinken und
wartete darauf, dass sein Herz aufhören würde, wie rasend zu hämmern, und dass seine Hände und Knie nicht mehr so heftig zitterten.
Dann überkam ihn jäh eine vollkommen andere Furcht.
Mit einer Bewegung, die so mühsam war, als wöge die Waffe eine
Tonne, zog er das Schwert eine Handbreit aus der Scheide an seinem
Gürtel, hob die andere Hand an die rasiermesserscharfe Klinge und
ritzte seine Haut. Es tat weh, und die Wunde blutete heftiger, als sie
es eigentlich hätte tun sollen, doch gerade, als aus Andrejs Furcht
bittere Gewissheit werden wollte, versiegte der Blutstrom und die
Wunde begann sich zu schließen. Langsam. Es war viel schmerzhafter und es dauerte länger, als er es gewohnt war, aber sie schloss sich,
und schon nach einigen weiteren Augenblicken erinnerte nur noch
eine dünne, weiße Narbe auf seinem Handrücken an den tiefen
Schnitt, den er sich selbst zugefügt hatte.
Andrej schloss mit einem erleichterten Seufzen die Augen. Wenigstens war sie nicht so weit gegangen, ihm seine Unverwundbarkeit zu
nehmen.
Was ihn wieder zurück zu der Frage brachte, warum sie ihm das
überhaupt angetan hatte.
Andrej öffnete ein zweites Mal die Augen und sah sich aufmerksamer um. Er war orientierungslos. Waren sie nun von rechts oder links
gekommen? Er wusste es nicht. Er erinnerte sich auch nicht, überhaupt eine Tür durchschritten zu haben, um in die geheime Grabkammer zu gelangen, aber er glaubte, noch einmal Meruhes Worte
zu hören, die Abu Dun und ihn so eindringlich gewarnt hatten, diese
Gänge nicht auf eigene Faust zu erkunden.
Aber welche andere Wahl hatte er schon?
Wenn er wenigstens gewusst hätte, in welche Richtung er gehen
musste, um die Grabkammer und damit Abu Dun wiederzufinden. Er
hatte keinerlei Anhaltspunkt.
Andrej fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen,

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