Die Verfluchten
»Oder der Herr dieser Festung kommt selbst«, fuhr er unbeeindruckt fort. »Das macht jeder
Kaufmann so, weißt du? Er besichtigt neu eingetroffene Ware.«
Andrej fiel auf, wie still es rings um sie herum geworden war.
Auch, wenn sie sich in einer Sprache unterhielten, die niemand von
ihnen verstand, hatten sich doch alle Sklaven in ihrer unmittelbaren
Nähe zu ihnen umgedreht und starrten ihn und den riesenhaften Nubier an. Hier und da wurde gewispert und getuschelt. Andrej machte
sich nicht die Mühe, auf die Worte zu achten, aber ihm war klar, dass
die Neuigkeit von den beiden sonderbaren Fremden, die sich freiwillig in Gefangenschaft begeben hatten, längst auch den allerletzten
Sklaven zu wilden Mutmaßungen veranlasste. Ein weiterer Grund,
aus dem ihm das, was Abu Dun gerade gesagt hatte, immer weniger
gefiel. Niemand würde sie verraten, zumindest nicht freiwillig, doch
spielte es am Ende keine Rolle, ob es freiwillig geschah, aus Heimtücke oder nur aus Nachlässigkeit. Neuigkeiten - vor allem so außergewöhnliche - entwickelten nur zu oft Flügel. Und manchmal sogar
solche, die sie durch massive Mauern hindurchbeförderten.
»Mach dir keine unnötigen Sorgen«, sagte Abu Dun, der wieder
einmal seine Gedanken gelesen zu haben schien. »Sie werden entweder schnell kommen oder gar nicht. Wir warten eine Stunde. Keinen
Augenblick länger.«
Ganz abgesehen davon, dass sie keine Möglichkeit hatten, den Verlauf der Zeit zu erkennen, war das länger als Andrej warten wollte. Aber wäre es nach dem gegangen, was er wollte, dann wären sie gar
nicht hier.
Er setzte dennoch dazu an, erneut zu widersprechen, brach aber ab,
noch bevor er das erste Wort gesagt hatte, und sah sich rasch und
stirnrunzelnd um. Mindestens ein Dutzend Männer und Frauen beobachteten ihn und Abu Dun, aber das war es nicht. Er hatte abermals
das Gefühl, angestarrt und belauert zu werden, auf diese ganz besondere, unangenehme Art, die er draußen schon einmal verspürt hatte.
Nervös drehte er sich einmal um sich selbst und warf dabei einen
prüfenden Blick in jedes einzelne der schmutzigen, erschöpften Gesichter, die ihn anstarrten. Die meisten sahen hastig weg, wenn oder
auch kurz bevor sie seinem Blick begegneten, einige wenige hielten
ihm trotzig stand, aber das Gesicht, nach dem er suchte, war nicht
darunter.
»Was ist los?«, fragte Abu Dun alarmiert.
Andrej hob beinahe hilflos die Schultern. »Nichts. Ich hatte nur das
Gefühl…«
»… angestarrt zu werden?«, half ihm Abu Dun aus.
Andrej sah überrascht zu ihm hoch. »Du auch?«
Abu Dun nickte.
»Da war diese Frau!«, murmelte Andrej. Er sah noch einmal nach
rechts und links, doch alles, was er erkannte, war ein Meer aus Turbanen und Köpfen und schmutzigem Haar. Das Gefühl, belauert zu
werden, blieb auf eine unangenehme, bedrohliche Art. Andrej konnte
es nicht begründen, aber ein bisschen fühlte er sich wie eine Fliege,
die bereits im Netz zappelte und die Spinne zwar noch nicht sehen,
ihren gierigen Blick aber bereits spüren konnte. Beute, dachte er. Er
fühlte sich wie Beute.
»Was für eine Frau?«, wollte Abu Dun wissen.
»Eine Frau eben. Sie hat helles, rötliches Haar, und… ich weiß
nicht. Mit ihrem linken Auge scheint irgendetwas nicht zu stimmen.«
»Es ist nicht sehr höflich, in einer Sprache zu sprechen, die kein
anderer versteht«, sagte eine Stimme hinter ihm. Andrej fing einen
erstaunten Blick aus Abu Duns Augen auf, als er herumfuhr, aber
dieser überraschte Ausdruck galt nicht ihm, sondern jemandem, der
unmittelbar hinter ihm stand. Mit einem Erschrecken, das schon beinahe an Entsetzen grenzte, registrierte Andrej, dass genau die Frau,
über die er gerade gesprochen hatte, wie aus dem Nichts hinter ihm
aufgetaucht war. Das war unmöglich. Er hatte sich vor zwei oder drei
Atemzügen erst umgedreht und jeden in seiner unmittelbaren Umgebung angesehen. Niemand hätte sich in dieser dicht gedrängt dastehenden Menschenmenge so schnell und unauffällig nähern können,
dass er es nicht bemerkte.
Aber sie hatte es getan. Es war die Frau, die ihn bereits oben vor
dem Tor auf so seltsame Weise angesehen hatte, und obwohl Andrej
ihr jetzt viel näher war, blieb der Anblick ihres Gesichtes irritierend
und verstörend. Trotz all des Schmutzes und des eingetrockneten
Schweißes auf ihrem Gesicht konnte Andrej erkennen, dass es ein
sehr schönes war, vielleicht nicht mehr ganz jung - er schätzte ihr
Alter auf vierzig, auch, wenn das
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