Die Verfluchten
Frau zu vertrauen. Er
konnte nicht sagen, woher dieses Gefühl kam, aber es war zu stark,
um es zu ignorieren. Wenn Andrej eines gelernt hatte, dann, auf diese innere Stimme zu hören.
»Und du willst nicht davon sprechen«, vermutete sie. Diesmal unterbrach sie ihn schon, bevor er überhaupt antworten konnte. »Gut,
das ist deine Sache. Wenn ihr so dumm seid, euch freiwillig in die
Sklaverei zu begeben, und etwa glaubt, das hier wäre nur ein Abenteuer, dann könntet ihr eine böse Überraschung erleben. Aber das ist
nicht meine Sache. Ich warne euch nur, nichts zu tun, worunter nicht
nur ihr, sondern auch alle anderen hier leiden müssten.« Und damit
drehte sie sich um und verschwand so rasch und spurlos in der Menge, wie sie daraus aufgetaucht war. Andrej sah ihr noch einen Augenblick lang verwirrt nach, dann drehte er sich ganz langsam wieder
zu Abu Dun um, doch die Ratlosigkeit, die er auf dessen Gesicht las,
war fast ebenso groß wie seine eigene.
»Das war eine Frau aus deinem Volk, habe ich Recht?«, fragte er,
wobei er abermals ins Deutsche wechselte.
Abu Dun deutete eine Bewegung an, die man mit einigem guten
Willen als Nicken auslegen konnte. »Hast du… ihr Auge gesehen?«,
murmelte er.
»Das, von dem ich dir vorhin erzählt habe?«
»Es war falsch«, flüsterte Abu Dun. Plötzlich erschien ein sehr
nachdenklicher, aber auch beunruhigter Ausdruck auf seinem
schwarzen Gesicht.
»Falsch?«
Abu Dun nickte heftig. »Und hast du ihren Namen gehört?«
»Meruhe«, bestätigte Andrej. Er lauschte in sich hinein, ob ihm dieser Name vielleicht etwas sagte, aber da war nichts.
»Meruhe ist nicht ihr Name«, sagte Abu Dun. »Meruhe klingt verdächtig ähnlich wie der Name der alten Hauptstadt des nubischen
Reiches.«
Andrej blickte ihn nur fragend an. Das war vielleicht ein wenig
sonderbar, wie er zugeben musste, aber eigentlich nicht beunruhigend. Und doch las er einen Ausdruck von langsam stärker werdendem Erschrecken auf dem Gesicht seines Gefährten. »Es gibt auch
bei uns eigentümliche Namen«, sagte er.
»Selbstverständlich«, knurrte Abu Dun. »Wie viele Menschen
kennst du in deiner Heimat, die sich Rom nennen - oder Wien oder
London?« Er schüttelte noch einmal heftig den Kopf. »Und wie viele
Männer und Frauen kennst du, die es wagen würden, uns so unverhohlen zu drohen?«
»Männer nur sehr wenige«, antwortete Andrej lächelnd. »Frauen…« Er zuckte mit den Schultern. »Schon ein paar mehr.«
Abu Dun blieb ernst. Sein Blick irrte durch den Raum und schien
nach Meruhe zu suchen, fand sie aber ganz offensichtlich nicht.
»Wie konnte sie wissen, wer ich bin?«
»Das war ein Zufall«, behauptete Andrej, hatte zugleich aber auch
das sichere Gefühl, es wider besseres Wissen zu tun. Er fuhr trotzdem fort: »Und, wenn du es mir nicht übel nimmst: Abu Dun mag
ein außergewöhnlicher Name sein, aber so originell ist er nun auch
wieder nicht. Schon gar nicht für einen Piraten und Halsabschneider.«
»Das ist eine Erklärung«, räumte Abu Dun unumwunden ein, was
Andrej deutlicher als alles andere bewies, wie nervös und verunsichert der Nubier war. Ihn als Piraten zu bezeichnen war normalerweise der sicherste Weg, einen heftigen Streit mit ihm vom Zaun zu
brechen. »Es gibt aber noch eine andere.«
»Daran habe ich auch schon gedacht«, antwortete Andrej kopfschüttelnd. »Sie ist kein Vampyr. Ich hätte es gemerkt. Und du
auch.«
Abu Dun widersprach nicht. Er wusste so gut wie Andrej, dass dieser Recht hatte. Wesen wie sie unterschieden sich äußerlich nicht von
normalen Menschen (solange man nicht versuchte, Schwerter in sie
hineinzustechen oder sie mit Pfeilen zu spicken), und doch hatte er
immer gespürt, wenn ein anderer Unsterblicher auch nur in seine
Nähe kam. Das war wie eine Art Seelenverwandtschaft; etwas wie
ein Geruch, den nur Wesen der gleichen Art wahrnehmen konnten,
manchmal vertraut, manchmal fremd, manchmal süß und verlockend
und nur zu oft falsch und böse, wie etwas Uraltes, das schon lange in
Verwesung übergegangen war und dennoch auf schreckliche Art
weiterlebte. In der Nähe dieser Frau hatte er nichts dergleichen gespürt. Sie war ein sterblicher Mensch. Wenn auch ein sehr sonderbarer.
Vielleicht der sonderbarste, dem er seit langer Zeit begegnet war.
Sie mussten keine Stunde warten, wie Abu Dun es vorausgesagt
hatte. Nur ein Bruchteil dieser Zeit verging, bevor Andrejs scharfe
Ohren das Geräusch auffingen, mit dem die schwere Türe am oberen
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