Die Verfluchten
etwa an der Art lag, auf die er ihn das zweite
Mal gebunden hatte - und setzte dazu an, etwas zu sagen, doch Andrej schüttelte nur hastig den Kopf und suchte dann nach Abu Dun.
Auch der Nubier hatte seinen Strick losgemacht und war damit beschäftigt, die Fesseln aller anderen zu lösen, die sich in seiner
Reichweite befanden. Andrej versuchte, ihn unauffällig heranzuwinken. Als ob es ihnen in der mit Menschen hoffnungslos überfüllten
Zelle möglich gewesen wäre, auch nur ein einziges Wort miteinander
zu wechseln, ohne dass jemand mithörte!
»Unter der sprichwörtlichen Gastfreundschaft deines Volkes habe
ich mir etwas anderes vorgestellt«, begann er, kaum dass Abu Dun
neben ihm stand, allerdings nicht auf Arabisch, sondern auf Deutsch,
der Sprache, die sie beide in den zurückliegenden Jahrzehnten am
meisten benutzt hatten.
Abu Dun lächelte freudlos und zerrupfte einen weiteren daumendicken Strick wie ein anderer Mann einen Bindfaden durchgerissen
hätte. »Du wirst sie nicht allzu lange genießen können, also nimm
mit, was du kriegen kannst«, antwortete er in derselben Sprache.
Andrej nickte. »Das bringt mich dazu, eine Frage zu stellen. Ich
weiß, es steht mir nicht zu, an deinem Genie zu zweifeln, aber mich
würde doch interessieren, was zum Teufel wir überhaupt hier tun!«
Die letzten Worte hatte er so scharf hervorgebracht, dass etliche der
Sklaven in ihrer Nähe überrascht - nicht wenige auch erschrocken
und ängstlich - die Köpfe wandten und in ihre Richtung sahen. Auch
wenn sie die Sprache nicht verstanden, so war Andrejs Ton eindeutig.
Abu Dun verzog nur abermals die Lippen und wandte sich dem
nächsten Mann zu, dessen Fesseln er löste. »Für diese Art von Bemerkungen bin ich hier zuständig, Sahib.«
»Abu Dun!«, sagte Andrej scharf.
Abu Dun hörte auf, ihn zu ignorieren, und wandte sich ganz zu ihm
um. Von einem Atemzug zum anderen war von dem verängstigten
Sklaven, den er bisher so perfekt gespielt hatte, nichts mehr zu sehen.
Ganz im Gegenteil kam er Andrej plötzlich sogar noch größer und
Furcht einflößender vor als sonst. Unwillkürlich wich er einen halben
Schritt vor ihm zurück und hätte es noch weiter getan, wäre er nicht
gegen einen der anderen Sklaven geprallt. »Ich habe dich nicht gezwungen mitzukommen«, zischte der Nubier gefährlich leise.
»Nein, aber du hast mich auch nicht niedergeschlagen, um mich
davon abzuhalten«, erinnerte Andrej ihn.
Ganz kurz flackerte die Wut in Abu Duns Augen noch einmal heißer auf, doch dann trat er ein Stück zurück, schloss die Augen und
stieß hörbar die Luft zwischen den Zähnen aus. »Verzeih, Andrej«,
sagte er in verändertem Ton. »Du hast Recht. Es tut mir Leid.«
Andrej nickte nur, um dem Nubier zu signalisieren, dass er ihn
verstand. Das alles musste ungeheuer an den Nerven seines Freundes
zerren. Das war das Dilemma aller wirklich starken Männer. Waren
sie von Statur oder Ausstrahlung ihren Mitmenschen derart überlegen, wie es Abu Dun war, dann vergaß man allzu leicht, dass auch
sie letzten Endes nur aus Fleisch und Blut bestanden, ein Herz hatten
und eine Seele, die ebenso verwundbar war wie ihr Körper. Sein bloßer Anblick ließ den Gedanken, es könne irgendetwas geben, was
diesem Riesen wirklich zu schaffen machte, schon fast lächerlich
erscheinen. Andrejs schlechtes Gewissen meldete sich wieder, als
ihm klar wurde, dass auch er gerade diesen Fehler begangen hatte -
ausgerechnet er, der es nun wirklich besser wissen sollte. Für Abu
Dun musste das hier seine arabische Version der Hölle sein; einer
ganz privaten Hölle, die er vor langer Zeit kennen gelernt und, obschon überlebt, niemals wirklich verwunden hatte.
Er entschuldigte sich in Gedanken bei ihm, und als hätte Abu Dun
diesen Gedanken tatsächlich gelesen, antwortete er mit einem warmen, dankbaren Blick darauf. »Wir warten noch eine Weile ab«, sagte er dann.
»Warum?«
Der Nubier machte eine flatternde Handbewegung in Richtung des
Gitters und schlug dabei um ein Haar den Mann neben sich nieder,
der gerade noch im letzten Moment den Kopf einziehen konnte. »Sie
werden mit Sicherheit noch einmal wiederkommen, entweder um uns
Wasser oder Essen zu bringen - was ich allerdings bezweifle - oder
um sich zu überzeugen, dass wir auch alle hier sind. Jemand wird
kommen und eine Liste anfertigen…«
»… oder Haken auf einer Liste machen, die es schon gibt?«, warf
Andrej ein.
Abu Dun zog es vor, das zu ignorieren.
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