Die Verfluchten
Mühen und Anstrengungen enden
würden, wenn er es nur wollte, wenn er einfach nur aufhörte, einen
Fuß vor den anderen zu setzen und einen völlig sinnlosen Schritt
nach dem nächsten zu tun und sich stattdessen im warmen Sand ausstreckte und sich seiner beschützenden Umarmung ergab.
Nicht zum ersten Mal, aber mit viel größerer Mühe als zuvor,
schüttelte Andrej den verlockenden Gedanken ab und zwang sich in
die Wirklichkeit zurück.
Abu Dun hatte ihn gewarnt; noch bevor sie in dieses Land gekommen waren. Was er gerade erlebte, war das, was Abu Dun mit dem
harmlos klingenden Begriff Fata Morgana umschrieben hatte. Ein
Begriff, dessen Beschreibung er mit vagem Interesse gelauscht hatte,
als Abu Dun am behaglich prasselnden heimatlichen Lagerfeuer davon erzählt hatte - und erneut mit einem kaum weniger vagen Unbehagen, als sie bei Sonnenuntergang auf dem Hof einer Karawanserei
gesessen hatten und Abu Dun die gleichen Geschichten vor einem
größeren Kreis von Zuhörern zum Besten gegeben hatte. Verstanden
hatte er sie nicht.
Wirklich verstehen konnte er sie immer noch nicht. Seit Andrejs
menschliche Sinne vor so langer Zeit zu etwas… anderem geworden
waren, das um so vieles schärfer und zuverlässiger war als alles, was
sich ein sterblicher Mensch auch nur vorstellen konnte, hatte er niemals an ihnen gezweifelt. Warum auch? Er hatte gelernt, dass er
weitaus besser hören und sehen konnte als zuvor, dass sein Geruchs-
und Tastsinn es mit dem jedes Tieres aufnehmen konnten und dass er
darüber hinaus über eine Anzahl von Sinnen verfügte, die er nicht
einmal beschreiben konnte, weil es in der Sprache der Menschen
keine Entsprechung dafür gab. Wie sollte man einem Blinden Farben beschreiben? Wie einem Tauben Klänge?
Umso mehr schockierte ihn die Erkenntnis, dass ihn nun auch diese
scheinbar übermächtigen Sinne narrten; und das vielleicht im gleichen Maße, in dem sie denen eines normalen Menschen zuvor überlegen gewesen waren.
»Stimmt irgendetwas nicht, Andrej?«
Die Stimme schien von weit her zu ihm zu dringen. Sie hatte zugleich etwas Vertrautes wie auch ungemein Bedrohliches und
Fremdartiges. Es dauerte einen Moment, bis Andrej auch nur den
Sinn dieser Worte erkannte, und noch einen weiteren, bis er die Besitzerin dieser Stimme identifizierte.
Meruhe.
Mühsam wandte er den Kopf nach rechts und musste sich anstrengen, aus den auseinander fließenden Schemen neben sich wieder eine
Gestalt werden zu lassen. Es war nicht so, dass ihm die Kraft zu einer
Antwort fehlte. Er sah nur keinen Grund, die nötige Energie dafür
aufzubringen.
»Andrej?«, fragte Meruhe. Sie klang ein bisschen beunruhigt, fand
Andrej.
Weil er wusste, dass sie nicht aufgeben, sondern ihn weiter bedrängen würde, bis er antwortete, tat er es. »Ja?«
»Ist alles in Ordnung mit dir?«
Andrej nickte zwar, dachte aber zugleich intensiv über ihre Frage
nach und hob dann die Schultern. »Ich bin nicht sicher«, gestand er
mit ungewohnt rauer Stimme. Seine Mundhöhle war so ausgedörrt,
als hätte in ihr ein Sandsturm getobt.
Meruhe hatte ihn auch bisher schon durchdringend angesehen, jetzt
aber erschien in ihren sonderbar asymmetrischen Augen ein Ausdruck echter Sorge. »Was ist los mit dir?«, fragte sie.
Wenn er das nur gewusst hätte! Andrej dachte über diese Frage
nach, dann deutete er mit der Hand nach vorn. »Ich weiß es nicht«,
gestand er. »Ich sehe dort einen See. Und vielleicht auch eine Oase
und Schatten spendende Palmen und Kamelreiter.« Er lachte leise
und schüttelte den Kopf. »Ich weiß, dass nichts davon da ist, aber ich
sehe es trotzdem. Das ist… verrückt.«
Meruhe nickte, als hätte er ihr eine der fundamentalen Weisheiten
der Welt kundgetan. »Und das beunruhigt dich.«
Andrej versuchte vergeblich, seine ausgetrockneten Lippen zu befeuchten. »Ein wenig«, gestand er dann mit heiserer Stimme.
»Weil du es gewohnt bist, dich immer und unbedingt auf deine Sinne zu verlassen«, vermutete Meruhe.
Nicht zum ersten Mal, seit er diese unheimliche, schwarze Schönheit kennen gelernt hatte, fragte er sich, ob sie auf geheimnisvolle
Art seine Gedanken lesen konnte. Er sagte nichts mehr, sondern sah
sie nur durchdringend an. Meruhe schien dieser Blick nichts auszumachen, ganz im Gegenteil erwiderte sie ihn gelassen und schenkte
ihm schließlich sogar ein Lächeln - vielleicht das erste überhaupt,
seit sie einander begegnet waren, das ihm wirklich ehrlich vorkam.
Nicht abschätzend,
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