Die Verfuehrerin
Schimmelschicht versehen, ein großer Brocken, der aus purem Gold zu bestehen schien, und unten am Boden ein Foto von einer jungen hübschen Frau. Chris hielt das Foto ins Licht, wischte den Schimmel von den Rändern und studierte das Bild. Die Frau sah glücklich und zufrieden aus und schien bereit, die Welt wie einen Stier bei den Hörnern zu packen. Lächelnd steckte Chris das Foto in ihre Tasche und begann, die anderen Sachen wieder in die Kiste zurückzulegen. »Etwas Interessantes?« hörte sie Tys Stimme hinter ihrem Rücken.
»Sie sollten schlafen«, sagte sie. »Sie sind die ganze Nacht hindurch wach gewesen.«
»Ich habe lange genug geschlafen. Was machen Sie da? Ich habe in meinem ganzen Leben noch keine Frau erlebt, die so viel spioniert wie Sie.«
»Ich habe nicht spioniert. Ich habe saubergemacht.«
Mit einem wissenden, kleinen Lächeln setzte er sich neben sie. »Sie haben in verschlossenen Kisten saubergemacht?« fragte er und deutete mit dem Kopf auf das verrostete, gesprengte Schloß, das neben ihr auf dem Boden lag. »Haben Sie etwas Interessantes gefunden?«
»Ungefähr ein Kilo reines Gold«, sagte sie mit selbstgefälliger Stimme und hielt ihm den großen Goldklumpen hin. »Das ist der Grund, weshalb der Alte seine Hütte nicht verlassen wollte.«
Ty nahm den Klumpen entgegen, lehnte sich auf einen Ellbogen zurück und betrachtete ihn. »Katzengold«, sagte er, »der alte Mann kann nicht einmal echtes Gold von Katzengold unterscheiden. Dort oben im Hügel ist eine Stelle, wo er seit Jahren nach Gold gräbt. Er hat dort schon gegraben, als er noch ein kleines Kind war.«
Chris nahm ihm den Gesteinsbrocken wieder aus der Hand. »Warum bleibt er hier, wenn hier gar kein Gold zu finden ist? Und warum lebt er in so unbeschreiblich primitiven Verhältnissen?«
»Er glaubt, es gäbe hier Gold, und Fakten haben keinen Einfluß auf den Glauben dieses Mannes. Und warum er so lebt, hängt mit seiner Angst zusammen, sich von etwas trennen zu müssen. Was er heute nicht verkaufen kann, wird er so lange aufheben, bis es vielleicht etwas wert ist.«
»Wie Babys. Sie sind nicht viel wert als Neugeborene, aber kräftige kleine Jungen können arbeiten.«
Tynan gab ihr darauf keine Antwort, blickte nur hinauf zu einem kleinen Vogel über seinem Kopf, schien diesen Moment, in dem er still daliegen konnte, zu genießen. »Aber wie konnte er hier denn existieren? Er mußte doch Geld haben, um Proviant oder Vorräte einkaufen zu können. Hat er denn immer nur Sachen gestohlen und sie dann verhökert?«
Tynan brauchte eine Weile, ehe er antwortete: »Anfangs hat er vom Stehlen gelebt. Doch jetzt schicke ich ihm Geld, wenn ich kann.«
»Sie? Aber weshalb? Nach allem, was er Ihnen angetan hat, und bei dem Haß, den Sie auf ihn haben, hätte ich gedacht, daß Sie keinen Finger für ihn krumm machen würden.«
»Dieser alte Mann war trotz allem, was er mir angetan hat, das, was einem Vater am nächsten kam. Zudem wollte ich verhindern, daß er noch einmal Kinder verkaufte.«
»Ich frage mich, wie ein Mensch wie er zu dem wurde, was er heute ist. Ich frage mich, was für schreckliche Dinge er erlebt haben mußte, damit er so wurde, wie ich ihn erlebt habe. Ich wette, er war einmal verliebt. Vielleicht hat er seine Liebe verloren und nie mehr wiedergefunden.«
Ty sah sie an, als habe sie den Verstand verloren. »Wie kommen Sie auf die Idee, daß der alte Mann jemals ein anderes Wesen geliebt haben könnte?«
»Ich fand ein Foto von der Frau, die er liebte.«
»Lassen Sie mich das Foto mal sehen«, sagte Ty leise.
Chris holte es wieder aus ihrer Tasche und gab es ihm. Er betrachtete es lange, ehe er es zurückgab. »Er erzählte mir, er habe es in die Schlucht geworfen, und ich habe ihm das geglaubt.«
»Sie kennen das Bild?«
»Es war viele Jahre mein kostbarster Besitz.«
Sie zögerte. »Wer ist diese Frau?«
»Sie soll meine Mutter gewesen sein.«
»Ihre Mutter? Aber, Ty, ist Ihnen denn nicht bewußt, daß Sie anhand dieses Fotos vielleicht herausfinden können, wer ihre Mutter war? Herausfinden können, wer Sie sind?«
»Wer ich bin, weiß ich«, sagte er durch zusammengepreßte Zähne.
Chris betrachtete das Foto eine Weile. »Wie war der Name dieser Frau?«
»Ich habe keine Ahnung.«
»Aber haben Sie denn nie danach gefragt?«
Er sah sie an. »Wen sollte ich denn danach fragen? Der alte Mann erzählte mir, sie habe nur ein Wort gesagt, ehe sie starb, und das lautete: >Tynan<.«
»Haben sie
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