Die vergessene Frau
meinte er mitfühlend. »Es war ein schweres Jahr für Sie, nach der Sache mit dem Baby …«
»Wahrscheinlich haben Sie recht.« Franny seufzte müde. Ursprünglich war sie auf Max’ Vorschlag hin zum Arzt gegangen, vor ein paar Monaten schon, als ihre Stimmungsschwankungen unbeherrschbar zu werden drohten. Sie hatte dem Arzt die Symptome beschrieben – die ständige Erschöpfung, die Vergesslichkeit …, woraufhin er ihr Antidepressiva verschrieben hatte. Sie hatte sie pflichtbewusst genommen, doch sie schienen nichts zu bewirken. Etwas höhlte sie innerlich aus, etwas, das über eine Depression hinausging, davon war sie überzeugt. Sie war nicht einfach nur traurig oder ein bisschen niedergeschlagen. An manchen Tagen wollte ihr Körper einfach nicht gehorchen. Ihre Hände zitterten dann unkontrollierbar. »Aber es scheint eher schlimmer als besser zu werden«, erklärte sie jetzt dem Arzt.
»Ach so?«
»Ich werde immer tollpatschiger. Gestern Morgen habe ich meine Tasse fallen lassen, als ich einen Tee trinken wollte. Und ständig stoße ich irgendwo an.« Sie zog ihre Bluse hoch und zeigte ihm die verblassten Überreste eines blauen Flecks, den sie sich zugezogen hatte, als sie vorige Woche gegen eine spitze Tischecke gelaufen war.
Dr. Robertson schaute sie ernst an. »Das sieht wirklich böse aus.«
»Außerdem werde ich immer vergesslicher. Heute Morgen habe ich mir vor dem Baden den Ehering abgezogen, und als ich aus der Wanne kam …« – sie musste schlucken –, »wusste ich einfach nicht mehr, wohin ich ihn gelegt hatte.«
Der Arzt schaute sie lange nachdenklich an. Dann räusperte er sich und rückte seine Brille zurecht, ein sicherer Hinweis darauf, dass er gleich eine indiskrete Frage stellen würde. »Bitte fassen Sie das nicht falsch auf, Mrs Stanhope. Aber haben Sie, ähm, in letzter Zeit vielleicht etwas mehr getrunken als üblich?«
Franny starrte ihn entgeistert an. Im ersten Moment wollte sie das empört abstreiten. Andererseits … vielleicht hatte er ja recht? Es gab wirklich Abende, an denen sie sich ein, zwei Gläser aus Max’ Brandykaraffe gönnte, weil sie nicht einschlafen konnte.
»Vielleicht«, gab sie zögerlich zu.
Dr. Robertson nickte verständnisvoll. »Lassen Sie uns darüber reden.«
Eine halbe Stunde später verließ Franny seine Praxis, ausgestattet mit einem Rezept für Schlaftabletten, die sie statt des Alkohols nehmen sollte. Sie hatte noch fragen wollen, inwiefern es ihr helfen sollte, eine Droge durch eine andere zu ersetzen. Doch sie war bereit, alles zu versuchen. »Einmal richtig auszuschlafen kann vieles bewirken«, hatte ihr Dr. Robertson versichert. Franny machte sich zwar nicht allzu viele Hoffnungen, aber wahrscheinlich konnte ein Versuch nicht schaden.
Außerdem hatte Dr. Robertson ihr nicht nur Schlaftabletten verschrieben, sondern auch erklärt, dass es helfen könnte, wenn Franny mehr ausginge und unter Leute käme. »Es ist nicht gut für Sie, so viel allein zu sein. Sie brauchen Ablenkung.«
Darum beschloss Franny, die Einladung zu Hunters dreißigstem Geburtstag anzunehmen, die wenig später eintraf. Max war natürlich dagegen. Er glaubte nicht, dass sie sich schon weit genug erholt hatte.
»Du kommst mir immer noch so angegriffen vor, mein Liebling«, meinte er, als sie das Thema ansprach. Aber sie ließ sich nicht umstimmen.
»Ich muss wieder unter Menschen«, beharrte sie. Schließlich sollte die Party in San Simeon stattfinden, auf William Hearsts Anwesen, das von Stanhope Castle aus nur eine Stunde mit dem Auto entfernt lag.
Am Abend der Party merkte Franny, wie ihre Lebensgeister zurückkehrten. Sie fühlte sich fast wieder wie sie selbst. Sie hatte ein Kleid von Christian Dior an, ein bodenlanges mitternachtsblaues Gewand im griechischen Stil. Hilda hatte ihre Haare zu Löckchen gebrannt, und sie trug goldene Reifen an beiden Armen. Sie sah ein bisschen aus wie Kleopatra, so als wollte sie an die Glanzzeit ihrer Karriere erinnern, und sie würde bestimmt tiefen Eindruck machen. Und vor allem darauf kam es ihr an, nachdem sie sich nach so langer Zeit erstmals wieder in der Öffentlichkeit zeigen würde. Sobald sie an die vergangenen freudlosen Monate dachte, verblasste ihr Lächeln. Aber nein, heute Abend würde sie keinen Gedanken an diese Elendszeiten verschwenden.
Stattdessen machte sie sich bereit. Sie sprühte Chanel No. 5 auf Handgelenke und Hals, nahm ihre kleine Handtasche und ging nach unten, um auf Max zu warten. Er hatte an
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