Die vergessene Frau
war. Aber dann bekam sie diesen schrecklichen, grauenvollen Anruf, in dem Franny ihr völlig aufgelöst mitteilte, dass sie das Kind verloren hatte.
Kapitel 27
Waisenhaus der Sisters of Charity, San Francisco, Dezember 1958
»Guter Mond, du gehst so stille …«
In ihrem Schaukelstuhl lagernd, das schlafende Baby sicher im Arm, wiegte sich Schwester Marie unter leisem Gesang vor und zurück. Die Bewegung schien das Kind zu beruhigen, diese Erfahrung hatte die Nonne in den Monaten gemacht, die das winzige Mädchen mittlerweile bei ihnen war. Es war kaum zu glauben, dass die Kleine noch vor zehn Minuten geschrien hatte, was die kleine Lunge hergab.
Jeder, der die beiden beobachtet hätte, hätte nicht glauben mögen, dass Schwester Marie anfangs davor zurückgescheut hatte, sich um das Baby zu kümmern. An dem Abend, an dem Sophie – wie sie das Kind laut dem Überbringer nennen sollten – eingetroffen war, hatte die Mutter Oberin sie gleich in den Säuglingssaal gebracht. Schwester Marie war ihr widerstrebend gefolgt. Kaum waren sie oben angekommen, hatte die ältere Nonne der Novizin das Baby hingehalten.
»Hier, du wirst für sie verantwortlich sein.«
Im ersten Moment hatte Schwester Marie das Baby nicht nehmen wollen. Inmitten des tobenden Gewitters, und so wie das Kind aussah … Sie hatte das Gefühl, dass es unter einem schlechten Stern geboren war. Sie wollte nicht jeden Tag mit diesem Unglückswurm verbringen.
Die Mutter Oberin hatte das Sträuben ihrer Untergebenen gespürt und leise tadelnd erklärt: »Wir sind alle Gottes Geschöpfe. Hat sie nicht die gleiche Fürsorge verdient wie die anderen Kinder hier?«
Darauf fiel Schwester Marie nichts zu sagen ein, und so tat sie ihre Pflicht und kümmerte sich um das Kind. Sophie war eine schlechte Schläferin. Eines Nachts wollte sie einfach nicht aufhören zu weinen. Zufällig kam an diesem Abend die Mutter Oberin an der Säuglingsstation vorbei, die das schreiende Kind aus seiner Krippe hob. Die alte Nonne drückte Sophie an ihre Brust und begann sie zu wiegen.
»Willst du vielleicht ein bisschen getragen werden?«, gurrte sie dem Baby zu. »Hörst du dann auf zu weinen?«
»Ich habe alles getan, was ich kann«, erklärte Schwester Marie mürrisch. »Ich habe die Kleine gefüttert und gewickelt. Ich glaube, sie ist einfach nur bockig.«
Aber als wollte die Kleine ihr zeigen, dass sie sich täuschte, begann sie sich zu beruhigen und hörte kurz darauf auf zu schreien. Als Schwester Marie ihrer Mutter Oberin über die Schulter sah, stellte sie fest, dass Sophie eingeschlafen war.
»Da… das verstehe ich nicht.«
Die Mutter Oberin lächelte leise. »Ein Kind braucht mehr als nur zu essen und saubere Sachen, Schwester Marie. Sophie ist vielleicht anders als die übrigen Kinder hier, aber genau wie alle anderen braucht sie Liebe, um zu gedeihen.«
Die junge Nonne hatte sich so geschämt, dass sie an Ort und Stelle gelobt hatte, sich mehr um das Kind zu kümmern. Statt das Baby nur nach Vorschrift zu pflegen – es zu füttern, zu wickeln und ins Bett zu bringen –, hatte sie angefangen, mit ihm zu sprechen, während sie es versorgte. Anfangs war sie sich dabei komisch vorgekommen; schließlich war es nicht so, als hätte das Baby irgendwie reagiert. Doch im Lauf der Zeit baute sie durch ihr Geplauder eine Beziehung zu dem Baby auf. Und nachdem sie ihre anfänglichen Vorbehalte überwunden hatte, begriff sie, dass das Kind tatsächlich nicht anders war als alle anderen.
Inzwischen hatte sie ihr Schlaflied zu Ende gebracht, das Baby gurgelte leise im Schlaf, und Schwester Marie spürte, wie ihr das Herz aufging.
»Sie scheint dich ins Herz geschlossen zu haben.«
Schwester Marie hob den Kopf und sah die Mutter Oberin still lächelnd in der Tür zum Säuglingssaal stehen.
»Und ich sie«, erwiderte die junge Nonne. »Sie ist ein ganz besonderes kleines Mädchen.«
Das Lächeln der Mutter Oberin wurde breiter. »Ich weiß.«
Sie ließ Schwester Marie allein, denn sie wusste, dass das kleine Kind, dem ein anstrengendes, kompliziertes Leben bevorstand, immer jemanden an seiner Seite haben würde.
Kapitel 28
Juni 1959
Dr. Robertson lächelte seine Patientin gütig an. »Ich glaube, Sie sollten den Pillen noch etwas Zeit geben, ihre Wirkung zu entfalten.«
Franny merkte, dass ihr prompt die Tränen kamen, wie so oft in letzter Zeit. »Aber ich nehme sie schon seit drei Monaten.«
»Für solche Dinge gibt es leider keinen festen Zeitrahmen«,
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