Die vergessene Frau
Kopf. »Habt ihr das gehört? Ihre Hoheit glaubt, sie ist zu gut für unser Essen.«
Die anderen kicherten. Niamh blieb als Einzige ernst.
»Du musst aber aufessen«, beschwor sie Cara. »Vorher bekommst du nichts anderes. Das sind die Regeln. Und glaub mir, morgen früh schmeckt es noch viel schlimmer.«
Cara sah auf ihren Teller und merkte, wie ihr die Tränen in die Augen traten. Sie wusste, dass sie etwas essen sollte, doch sie konnte einfach nicht. Es war einfach zu viel für sie: Erst war ihre Großmutter gestorben, und nun hatte es sie an diesen gruseligen, feindseligen Ort verschlagen.
»Ich kann nicht«, flüsterte sie. Sie hob den Kopf und flehte das andere Mädchen stumm an, sie nicht zu zwingen.
Niamh sah sie lange an, als versuche sie zu entscheiden, ob ihr die Neue etwas vorspielte. Dann überzeugte sie sich mit einem schnellen Blick, dass keine Nonne in der Nähe war, und streckte die Hand aus, um Caras vollen Teller zu sich zu ziehen und gegen ihren eigenen, leeren auszutauschen. Fast als fiele es ihr erst jetzt ein, gab sie Cara ihr Brot – das einzig Essbare auf dem Tisch.
»Ich mache das, weil du neu hier bist, aber in Zukunft musst du allein klarkommen.«
Cara sah überrascht zu, wie das Mädchen den Teller bis auf den letzten Bissen leerte. Als Niamh ihre Miene bemerkte, lächelte sie trocken.
»Ich hab dir doch gesagt, ich bin schon lange hier. Ich weiß, wie man hier überlebt. Halt dich an mich, dann schaffst du es auch.«
Nach dem Essen wurde gearbeitet. Vorerst, verkündete Schwester Jude, sollte Cara bei Niamh bleiben, bis ein offizieller Tagesplan für sie erstellt wurde. Niamh arbeitete zusammen mit fünf weiteren Mädchen in der Näherei unter der Aufsicht von Schwester Agnes. Dort wurden die Trachten der Nonnen angefertigt und repariert und dazu die Uniformen der Mädchen, außerdem wurden Näharbeiten für die Leute aus dem Ort übernommen, die dem Konvent zusätzliche Einnahmen brachten. Dank der Arbeit der Kinder trug sich das Waisenhaus praktisch selbst, erklärte ihr Niamh. Andere Kinder mussten im Obst- und Gemüsegarten helfen, die Böden schrubben, kochen oder abwaschen. Die Näherei war einer der angenehmsten Arbeitsplätze, was vor allem Schwester Agnes zu verdanken war.
»Sie ist eine von den Guten«, erklärte Niamh.
Jedenfalls war sie freundlicher als alle anderen. Sobald Cara und Niamh in die Näherei traten, kam die mondgesichtige Nonne auf die beiden Mädchen zu.
»Du bist bestimmt die Neue. Cara, nicht wahr?«, fragte sie gütig. »Dann wollen wir mal sehen, was wir dir zu tun geben können.«
Sie ließ Cara die Säume richten. Es war keine schwere Arbeit, und die Mädchen plauderten fröhlich unter Schwester Agnes’ wohlwollendem Auge. Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft konnte sich Cara wenigstens ein bisschen entspannen.
Bald war es Zeit, ins Bett zu gehen. Niamh führte Cara zu ihrem Schlafsaal. Neben Niamhs Bett war eines frei, das Cara nehmen konnte. Nachdem es noch eine halbe Stunde bis zur Schlafenszeit war, machten sich die Mädchen bettfertig, wobei sie sich leise und gedämpft unterhielten. Cara, die noch keine festen Rituale entwickelt hatte, sah zu, wie Niamh ihre langen blonden Haare löste. Sie fielen in einem schweren Zopf bis auf ihre Taille. Auf dem Bett sitzend begann Niamh die Nester auszubürsten, während Cara neidisch zusah. Sie hatte kurze dunkle Haare, und auch wenn sie immer lieber ein Wildfang gewesen war, so war sie doch unwillkürlich neidisch auf das Prinzessinnenhaar ihrer neuen Freundin.
Offenbar hatte Niamh ihren Blick gespürt, denn sie sah Cara lächelnd an.
»Ich muss das jeden Morgen und Abend machen, und es dauert jedes Mal eine Ewigkeit«, erklärte sie. »Aber ich will sie trotzdem nicht abschneiden.«
Cara konnte ihr das nachfühlen.
Um zehn lagen alle Mädchen in ihren Betten.
»Und was passiert morgen früh?«, wollte Cara wissen.
Niamh brachte sie jedoch zum Schweigen. »Still«, zischte sie warnend.
Und keine Sekunde zu früh. Kaum hatte Cara den Mund zugeklappt, stand schon Schwester Concepta in der offenen Tür.
Die Augen fest zugekniffen lauschte Cara, wie die Nonne den Saal abging und sich überzeugte, dass alles in Ordnung war. Als die Schwester an ihr Bett kam, spürte Cara, wie ihr Herz zu pochen begann. Dennoch gelang es ihr, ruhig zu atmen und sich schlafend zu stellen. Die Nonne blieb lange neben ihr stehen, aber schließlich wandte sie sich ab. Erst dann öffnete Cara die Augen. Ihr brannten
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