Die vergessene Frau
hager und grau geworden. Vielleicht war es eine langwierige Krankheit – sie würde den Arzt holen und das Kind untersuchen lassen müssen. »Aber du bist eindeutig zu krank, um irgendwohin zu fahren.«
Niamh hätte an diesem Nachmittag wieder zu den Buchanans fahren sollen. Es war inzwischen Januar 1962, und dies war ihre vierte Einladung in die Villa, seit sie das Paar vor drei Monaten zum ersten Mal besucht hatte. Die Nonne hatte die beiden bereits angerufen, um ihnen mitzuteilen, dass das Mädchen wahrscheinlich nicht kommen konnte, und dabei vorgeschlagen, an Niamhs Stelle ein anderes Mädchen zu schicken. Schwester Concepta war an diesem Nachmittag auf einer Konferenz der Waisenhausdirektoren, darum blieb die Entscheidung Schwester Agnes vorbehalten.
»Cara« – sie lächelte das Mädchen gütig an –, »ich finde, du solltest für Niamh hingehen.«
Caras Herz machte angesichts dieser unerwarteten Ankündigung vor Freude einen Satz. Endlich würde sie aus diesem Elend herauskommen und mit eigenen Augen sehen, wie die Buchanans lebten.
Augenblicklich machte sie sich daran, ihre kleine Tasche zu packen. Als sie fast damit fertig war, spürte sie eine kalte Hand auf ihrem Arm und zuckte erschrocken zurück. Es war Niamh. In ihrem langen weißen Nachthemd sah sie nicht nur bleich, sondern schon fast gespenstisch aus.
»Hast du mir einen Schrecken eingejagt!«, beschwerte sich Cara mit gespielter Entrüstung.
Doch Niamh blieb ernst. »Bitte, Cara«, drängte sie. »Hör auf mich. Geh da nicht hin.«
Cara schaute sie entgeistert an. »Warum denn nicht?«
Niamh zögerte, dann schüttelte sie den Kopf. »Das kann ich dir nicht sagen.« Ihr Blick flehte sie an. »Aber bitte glaub mir, hör auf mich. Ich flehe dich an: Geh da nicht hin!«
Das war zu viel für Cara. Sie war mit Niamh noch immer nicht wieder ins Reine gekommen, und das hatte sie in den letzten Monaten gleichermaßen verunsichert und verärgert. Jetzt brach der aufgestaute Ärger aus ihr heraus. »Ach so, ich verstehe«, fuhr sie ihre Freundin an. »Du hast doch nur Angst, dass sie mich vielleicht lieber mögen als dich.«
Sie hatte gehofft, damit einen Streit vom Zaun zu brechen, bei dem sich endlich herausstellen würde, was mit ihrer Freundin los war. Aber stattdessen schaute Niamh sie bestürzt an.
»Es tut mir leid, dass du so denkst«, sagte sie leise und wandte sich dann ab.
Wütend und zutiefst traurig, weil ihre Freundschaft offenbar endgültig zerbrochen war, sah Cara sie zu ihrem Bett zurückgehen. Dann stopfte sie ihre wenigen Habseligkeiten in ihre Reisetasche und beschloss, Niamh zu vergessen, um stattdessen das Wochenende zu genießen.
Zu Caras Überraschung hatten die Buchanans darauf bestanden, sie persönlich aus dem Waisenhaus abzuholen. Es war eine rührende Geste; an ihrer Stelle, mit all dem Geld und dem wunderschönen Haus, hätte Cara bestimmt nicht in den dunklen, deprimierenden Konvent kommen mögen.
Das Paar erwartete sie in Schwester Agnes’ Büro. Als Cara eintrat, standen beide auf; im Grunde wirkten sie noch nervöser als sie selbst. Beide waren elegant gekleidet, hielten sich an der Hand und waren wohl die schönsten Menschen, die Cara je gesehen hatte – ein Sinnbild für Wohlstand und edle Abstammung. Virginia Buchanan trug ein adrettes kleines Chanel-Kostüm in Bonbonrosa und hatte das makellos blond gefärbte Haar zu einem korrekten Knoten frisiert. James Buchanan wirkte in seinem dreiteiligen Nadelstreifenanzug gleichzeitig jugendlich und schneidig. Beide hoben sich in ihrem farbenfrohen Aufzug von dem Grau des Waisenhauses ab.
»Ach, Cara, Schätzchen«, sprudelte es aus Virginia heraus, während sie das Kind in ihre Arme zog. »Wir freuen uns ja so, dass du zu uns kommst. Ich konnte es gar nicht erwarten, dich kennenzulernen. Niamh erzählt ständig von dir, wenn sie bei uns ist.«
Das war seltsam, wenn man bedachte, wie abweisend sich Niamh ihr gegenüber in letzter Zeit verhielt. Aber Cara blieb keine Zeit, darüber nachzusinnen, denn Virginia redete schon weiter.
»Es ist so unglaublich schade, dass sie krank ist.« Das Gesicht der englischen Lady verdüsterte sich kurz, um zu zeigen, wie schrecklich sie Niamhs Krankheit fand, und hellte sich gleich darauf wieder auf. »Aber auf diese Weise kommen wir endlich dazu, dich kennenzulernen.«
Cara hörte verblüfft schweigend zu, während Virginia weiterplapperte. Sie hatte noch nie jemanden wie Mrs Buchanan kennengelernt – sie war so fröhlich,
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