Die vergessene Frau
Inzwischen war es Oktober 1961, seit dem Apfeldiebstahl waren fünf Monate vergangen. Nach dem Tiefpunkt, an dem ihr der Kopf geschoren worden war, hatte sich Caras Leben während der letzten paar Wochen dank Schwester Conceptas Abwesenheit deutlich verbessert. Ihr Haar war zwar noch nicht nachgewachsen, sondern stand ihr in unregelmäßigen Büscheln vom Kopf ab, aber immerhin bedeckte es inzwischen ihre Kopfhaut und sah so ansehnlich aus, dass sie sich in der Öffentlichkeit zeigen konnte, ohne sich schämen zu müssen. Diese Gelegenheit, ein ganzes Wochenende lang dem Waisenhaus entfliehen zu können, war für sie das Sahnehäubchen auf der Torte.
Die anderen Mädchen waren zwar ein bisschen neidisch, doch sie freuten sich für sie. Alle sahen sonntags auf dem Weg zur Kirche die große Villa, und jede Einzelne hätte alles dafür gegeben, die Glückliche zu sein, die dorthin eingeladen wurde.
Mit Niamh ging wie immer die Fantasie durch. »Vielleicht mögen sie dich so gern, dass sie dich adoptieren wollen«, meinte sie verträumt.
Cara schnaubte. »Na klar, als würde das passieren. Ich bin reif für jedes Märchenende.«
Aber obwohl sie das nie im Leben zugegeben hätte, hatte sie auch schon mit diesem Gedanken gespielt. Wie schön wäre das – endlich hier herauszukommen. Vielleicht würde sie die beiden sogar überreden können, auch Niamh bei sich aufzunehmen …
An jenem Abend schickte Cara ein besonders inbrünstiges Gebet zum Himmel und bat Gott, alles zu tun, damit sich die Buchanans in sie verliebten und sie aus dem St. Mary’s befreiten.
Während der nächsten Tage freute sie sich wie wild auf das Wochenende. Doch am Freitagabend, nachdem sie schon alles gepackt hatte, kam Schwester Agnes zu ihr, um ihr mitzuteilen, dass die Buchanans unerwartet nach London reisen mussten und sie darum nicht aufnehmen konnten.
»Nimm’s nicht so schwer«, sagte die Nonne, als sie sah, wie enttäuscht Cara war. »Nächstes Wochenende sind sie wieder hier, und dann darfst du bei ihnen übernachten.«
Dummerweise kehrte am folgenden Freitagmorgen Schwester Concepta verfrüht von ihrer Pilgerreise zurück. Cara saß gerade im Erdkundeunterricht, als sie die Nonne über den Asphalt zum Hauptbau gehen sah. Ihr wurde schwer ums Herz. Die alte Schwester würde sie auf keinen Fall zu den Buchanans lassen.
Und tatsächlich kam Schwester Concepta gleich nach dem Unterricht, als Cara gerade ihre Sachen zusammenräumte, ins Klassenzimmer, gefolgt von Schwester Agnes.
»Also, Cara«, setzte Schwester Concepta an, »wie ich gehört habe, wirst du uns für zwei Tage verlassen …«
»Ja, das werde ich«, platzte es aus Cara heraus, die schon ahnte, wohin das führen würde. »Und es ist gemein, dass Sie mich nicht gehen lassen wollen!« Sie schlug mit der Faust auf ihr Pult. »Gott verdammt!«, fluchte sie, woraufhin das ganze Klassenzimmer die Luft anhielt. »Warum müssen Sie mir immer das Leben zur Hölle machen?«
Cara merkte erst, wie aggressiv sie klang, als Schwester Agnes die Hand auf ihren Arm legte.
»Cara, bitte«, brachte die Schwester sie mit einem flehentlichen Blick zum Schweigen. Sie drehte sich zu Schwester Concepta um. »Ich bitte um Entschuldigung, Schwester. Sie hat es nicht so gemeint.«
Aber die ältere Nonne beachtete ihre Stellvertreterin nicht. »Eigentlich«, erklärte sie Cara, »wollte ich dich nur ermahnen, dich an diesem Wochenende von deiner besten Seite zu zeigen. Aber ich glaube, nach dieser kleinen Darbietung wäre es nicht angebracht, dich zu den Buchanans zu lassen.«
Cara war sprachlos vor Wut. Sie hatte der Nonne direkt in die Hände gespielt. Schwester Concepta hatte nie vorgehabt, sie zu den Buchanans zu lassen. Sie hatte nur nach einem Vorwand gesucht, um ihr dieses Privileg zu entziehen. Und den hatte ihr Cara prompt geliefert.
Schwester Agnes versuchte sich für Cara einzusetzen. »Aber sie werden gleich eintreffen. Soll ich ihnen sagen, dass wir ihnen niemanden mitgeben?«
»Aber nein. Wir schicken trotzdem ein Mädchen mit. Warum sollten wir einem anderen Kind diese Großzügigkeit verwehren, nur weil Cara ihrer nicht würdig ist?« Schwester Conceptas Augen wanderten durch den Raum. »Ich brauche eine Freiwillige. Wer würde gern gehen?«
Die Mädchen zögerten. Cara war beliebt, weil sie den Nonnen die Stirn bot, doch hier konnte niemand Loyalität erwarten – hier kämpfte jedes Mädchen für sich allein. Eine Hand nach der anderen wanderte nach oben.
Der Blick der
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