Die vergessene Frau
auszupacken.
Bestimmt glaubt sie, dass ich noch wütend auf sie bin, erkannte Cara. Darum stand sie auf und ging zu dem blonden Mädchen.
»Und wie war’s?«, fragte sie barsch.
Niamh sah nicht einmal auf. »Nett.«
Diese Zurückhaltung war so untypisch für sie, dass Cara theatralisch seufzte.
»Es ist schon in Ordnung, du kannst es mir erzählen. Ich werde nicht neidisch, Ehrenwort.« Sie setzte sich auf Niamhs Bett. »Ehrlich, ich will alles hören, was ihr gemacht habt.«
Doch Niamh wich ihrem Blick aus. »Vielleicht morgen. Jetzt bin ich zu müde. Ich will nur noch ins Bett.«
Pikiert über die abweisende Antwort schaute Cara sie verwundert an.
»Na gut.« Sie stand auf. »Wenn du meinst.«
Niamh antwortete nicht. Cara kehrte zu ihrem eigenen Bett zurück und dachte über das seltsame Verhalten ihrer Freundin nach. Sie konnte es sich nur damit erklären, dass Niamh immer noch verletzt war, weil Cara sie am Freitag so barsch abgefertigt hatte, aber dass Niamh ihren Groll so lange hegte, überraschte sie. Das war eigentlich nicht ihre Art. Vielleicht war sie einfach müde. Vielleicht war sie morgen besserer Laune.
Doch am nächsten Tag wollte Niamh genauso wenig über das Wochenende sprechen. Die ganze Woche besserte sich ihre Laune nicht. Sie wirkte, wenigstens auf Cara, verschlossen und abwesend. Sie aß kaum noch und ließ zu den Essenszeiten die anderen Mädchen ihren Teller leeren. Nicht einmal als es ihre Leibspeise gab, Carrageen-Pudding mit Honig und Zitrone, zeigte sie Interesse. Cara versuchte mit ihr zu reden, aber Niamh bestand jedes Mal darauf, dass alles bestens sei.
»Sie bläst sich nur so auf, weil sie bei den Buchanans war. Seitdem trägt sie die Nase hoch und glaubt, dass sie was Besseres ist, habe ich recht?«, neckte Molly Niamh und pikte sie in die Rippen.
»Lass mich einfach in Ruhe«, erwiderte Niamh müde.
Schließlich taten es die anderen Mädchen. Aber Cara machte sich trotzdem Sorgen. Mit Niamh stimmte etwas nicht. Sie hatte ihr inneres Leuchten verloren, und Cara war überzeugt, dass sie abends hören konnte, wie sich ihre Freundin in den Schlaf weinte. Nächtliche Tränen waren im Schlafsaal nichts Ungewöhnliches, doch Niamh schien länger zu weinen als alle anderen. Cara hätte zu gern gewusst, was mit ihr los war.
»Ich will nicht.«
Niamh kniff störrisch die Lippen zusammen. Schwester Concepta war zu ihnen gekommen, um ihnen zu eröffnen, dass die Buchanans Niamh auch an diesem Wochenende bei sich aufnehmen wollten. Seit der letzten Einladung waren sechs Wochen vergangen, und den Buchanans zufolge war die Übernachtung ein solcher Erfolg gewesen, dass sie Niamh wieder bei sich aufnehmen wollten. Die Nonne hatte das fast ungläubig gesagt, so als könne sie nicht recht verstehen, warum jemand seine Zeit ausgerechnet mit Niamh verbringen wollte. Aber Schwester Concepta war ein Snob; sie wollte die feinen Leute in ihrer Gegend keinesfalls vor den Kopf stoßen, und sie wollte auch nicht riskieren, dass die Spenden versiegten, die dem Waisenhaus so reichlich zuflossen.
»Egal, sie wollen dich haben, also wirst du hingehen«, erklärte sie Niamh fest. »Und damit Schluss.«
Niamh sah so unglücklich aus, dass Cara ein schlechtes Gewissen bekam. Seit jenem Nachmittag, an dem ihre Freundin an ihrer Stelle erstmals zu den Buchanans gefahren war, war ihre Freundschaft nicht mehr im Lot. Cara nahm an, dass Niamh nicht fahren wollte, weil sie Angst hatte, sie wieder zu verärgern, und versicherte ihr deshalb: »Es macht mir nichts aus, wenn du fährst. Ehrenwort.«
Niamh sah sie verständnislos an. »Was?« Diese verstörte Miene machte sie in letzter Zeit öfter.
»Ich weiß, dass du dich nicht danach gedrängt hast«, versuchte es Cara erneut. »Ich weiß, dass Schwester Concepta dich zwingt, zu ihnen zu fahren. Ich bin dir wirklich nicht böse, wenn …«
»Herr im Himmel!«, brach es plötzlich aus Niamh heraus. »Du glaubst wirklich, es geht immer nur um dich, Cara.« Ohne jedes weitere Wort stakste sie davon.
Cara sah ihr mit offenem Mund nach. So zornig hatte sie Niamh noch nie erlebt. Sie fragte sich, was in aller Welt mit ihrer Freundin los war und warum sie so ungern wieder in die Villa wollte.
Kapitel 33
Schwester Agnes legte die Hand auf Niamhs Stirn.
»Fieber hast du keines.« Sie sah das Mädchen nachdenklich an. Niamh hatte die ganze Nacht über Bauchweh geklagt, und sie lag kreidebleich in den weißen Laken. Seit Wochen ging es ihr schlecht, sie war
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