Die vergessene Frau
hätte ihm in letzter Minute sein Gewissen eingeflüstert, dass er diese arme, abgerissene Kreatur nicht einfach so gehen lassen durfte.
Cara zögerte. Eigentlich war es ihr unangenehm, Geld von ihm zu nehmen, aber sie hatte keinen Penny und brauchte etwas für die Reise.
»Danke«, sagte sie und wandte sich ab. Sie wollte ihn nicht nach dem Weg fragen. Je weniger Menschen wussten, wohin sie wollte, desto besser. Irgendwo unterwegs würde sie einen Fremden fragen, wie sie nach London kam.
Denn dort wollte sie hin: nach London, wo sie hoffentlich Annie Connolly und ihre Kinder finden würde, jene Menschen, bei denen sie bis zu ihrem achten Lebensjahr gelebt hatte. Nachdem ihre Mutter, Theresa und jetzt auch Niamh gestorben waren, waren die Connollys die Einzigen, die so etwas wie eine Familie für sie waren, und in ihrem Haus war sie das letzte Mal wirklich glücklich gewesen. Für Cara war es das logische Ziel ihrer Flucht. Und je weniger Menschen davon wussten, desto unwahrscheinlicher war es, dass man sie dort aufspürte. Sie musste komplett verschwinden.
Kapitel 35
Tanger, Marokko, 1962
Gabriel Stanhope spazierte durch den Souk, ohne einen Blick für die Stände und Händler übrig zu haben. Nach fast zwei Jahren in Tanger war er immun gegen die Farben, die Geräusche und Gerüche der Medina , wie hier die Altstadt genannt wurde. Niemand sprach ihn an. Mit seiner dunklen Haut, dem langen Bart und dem wallenden weißen Gewand konnte man ihn für einen Einheimischen halten.
Er bog in eine stillere Straße und folgte dem Labyrinth von Gassen in Richtung Kasbah . Ein Stück weiter blieb er vor einem niedrigen weißen Gebäude stehen und klopfte an die Holztür. Ein alter Mann, dunkel und verschrumpelt wie eine Rosine, öffnete ihm.
»As-Salāmu Àlayka.« Gabriel entbot ihm den Standardgruß: Friede mit dir.
»Wa alayka as-salām«, erwiderte der Alte.
Gabriel drückte dem Besitzer ein paar Münzen in die Hand und trat ein, heraus aus der Hitze des Tages. Durch einen Innenhof mit plätscherndem Brunnen gelangte er in einen kühlen, dunklen Raum. Die Läden waren geschlossen, und die Luft war durchtränkt von süßem Opiumduft. Gabriel suchte sich seinen Weg und stieg dabei über die kreuz und quer lagernden Schriftsteller und Musiker, Künstler und ausgewanderten Aristokraten hinweg, die sich auf der Suche nach Erleuchtung und Inspiration um die Fleischtöpfe und in den Drogenhöhlen Marokkos scharten. Schließlich fand Gabriel einen Platz etwas abseits, lehnte sich gegen einen Stapel reich bestickter Kissen und wartete darauf, dass ihm der Junge die schwere Holzpfeife brachte.
Nach zwei Jahren in Marokko war ihm dieses Ritual so vertraut wie das Atmen. Er war von Spanien aus nach Nordafrika weitergereist und konnte sich nicht vorstellen, je wieder wegzugehen. Die verkommene Stadt Tanger war verrufen als Fluchtort der Bohème und der verlorenen Seelen, und hier passte er her. Niemand hätte je vermutet, dass er der Sprössling eines der reichsten Geschäftsleute in den Vereinigten Staaten war – und genau das hatte er beabsichtigt.
Nicht dass der Name Stanhope noch viel bedeutete. Soweit Gabriel es mitbekommen hatte, hatte sich sein Vater nie von dem Skandal rund um Frances Fitzgeralds Tod erholt. Einmal die Frau zu verlieren konnte man noch als Unglücksfall betrachten; aber wenn die zweite Frau auch starb, sah das schon nach einem verdächtigen Zufall aus. Nicht dass Gabriel das mit Sicherheit gewusst hätte. Er hatte keinen Kontakt mit seinem Vater und nicht die Absicht, je wieder mit ihm zu sprechen. So war es einfacher. Trotzdem griff er hin und wieder nach einer Zeitung und las einen Artikel über die Tragödien, die seine Familie heimgesucht hatten und deren saftige Details immer wieder durchgekaut wurden, damit sich die Welt daran ergötzte. Am liebsten ließen sich die Journalisten über Olivia aus – seine arme, arme Schwester. Sie berichteten, sie hätte sich nie von ihrer Elektroschocktherapie erholt und würde zurückgezogen auf Stanhope Castle leben, tagaus, tagein umsorgt von ihrer Haushälterin Hilda. Ein trauriges, schreckliches Schicksal für eine junge Frau, darin waren sich alle einig. Gabriel spürte ein bitteres Lachen in seiner Kehle kitzeln. Wenn sie nur die Wahrheit wüssten.
Beim Gedanken an Olivia nahm Gabriel einen langen, tiefen Zug aus seiner Opiumpfeife und füllte seine Lungen mit süßem Rauch. Draußen rief der Muezzin zum Gebet. Er ließ sich in die Kissen sinken,
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