Die vergessene Frau
er hatte etwas in dem Jungen gesehen, das ihn vermuten ließ, dass er gut in seine Organisation passen könnte. In der folgenden Woche hatte er Danny zu sich kommen lassen.
Danny erschien pflichtbewusst in Finnbar Sullivans Boxclub. Der Anführer der Gang saß hinten in der Umkleide, wo er sich die Hände bandagieren ließ. Zwanzig Jahre zuvor hatte Finnbar sein Geld mit Boxkämpfen ohne Handschuhe verdient, und er legte immer noch gern ein paar Runden ein.
Rittlings auf einer Bank sitzend, ein Handtuch über den fleischigen Schultern, sagte Finnbar zu Danny: »Du glaubst also, du hast das nötige Zeug, um für mich zu arbeiten?«
»Ja, Sir, Mr Sullivan.«
»Großspuriger kleiner Angeber, wie?«
Tatsächlich hatte sich Danny noch nie so klein und schutzlos gefühlt wie in diesem Moment, als er vor Finnbar stand, umringt von dessen Schlägern. Aber er wusste, dass er jetzt keine Schwäche zeigen durfte, darum zuckte er nur mit den Achseln.
Finnbar lachte leise. »Nicht schlecht. Ich mag’s, wenn sie selbstbewusst sind. Ich glaube, wir werden gut miteinander auskommen.« Dann wurde sein Blick hart. »Solange du nicht vergisst, wer hier das Sagen hat.« Er schlug sich gegen die Brust. »Ich. Hier läuft alles über mich, und ohne meine Erlaubnis läuft gar nichts. Wenn du anfängst, mich zu beklauen, oder wenn du glaubst, dass du deine eigenen Dinger drehen kannst, sitz ich dir im Kreuz wie eine Tonne Backsteine. Vergiss das nie. Wenn du damit leben kannst, gehört der Job dir.«
Finnbar hatte überall seine Finger drin: Er trieb Schulden ein und hatte ein paar Mädchen laufen. Danny sollte beim Schutzgeld anfangen. Der Job war kinderleicht. Er würde die Geschäfte im Viertel abklappern, von den schicken Restaurants angefangen bis zu den kleinen Gemüsehändlern, und bei allen Geld einsammeln. Im Gegenzug würde Finnbar dafür sorgen, dass den Geschäften nichts geschah. Falls jemand säumig wurde oder sich zu zahlen weigerte, sollte Danny demjenigen klarmachen, warum das nicht besonders klug war. Die meisten Schuldner überzeugte er allein durch seine Größe, und schon allein darum hatte Finnbar ihn in seiner Gang haben wollen.
Vielleicht hatte Annie sich mehr als ein Leben in der Halbwelt für ihren Jungen gewünscht, der immerhin klug genug gewesen war, eine so gute Abschlussprüfung hinzulegen, dass er auf eine weiterführende Schule hätte gehen können, aber sie wusste genau, dass es zwecklos war, sich deswegen aufzuregen. Genau wie sein Vater hatte Danny nie Respekt gegenüber irgendwelchen Autoritäten gehabt. Und wenn Annie auch nicht mit jeder Entscheidung ihres Sohnes übereinstimmte, so musste sie ihn doch für seine Entschlossenheit bewundern. Inzwischen hatte sie begriffen, dass sie Liam schon Jahre zuvor hätte rauswerfen sollen, und sie schämte sich, wenn sie daran dachte, dass sie damit gewartet hatte, bis ihr halbwüchsiger Sohn das für sie übernommen hatte. Vielleicht würde er nie Arzt oder Anwalt werden, aber auf seine eigene Art sorgte er gut für sich – auf East-End-Art. Er war ein harter Bursche, ein Haudegen, in dessen Augen die Schule etwas für Jammerlappen war. Er war schlau und stark und hatte keine Angst, zur Tat zu schreiten. Aber vor allem hatte er das Zeug dazu, mehr als nur ein Geldeintreiber zu werden. Inzwischen stand er seit drei Jahren in Finnbars Diensten und hatte sich in der Organisation wie auch in der Welt hochgearbeitet.
Annie lächelte ihren Sohn liebevoll an, nahm einen Laib Brot aus dem Kasten und schnitt zwei dicke Scheiben ab. Sie holte Butter, Käse und Schinken aus ihrem neuen Kühlschrank – den ihr Danny ebenso ins Haus geliefert hatte wie den neuen Fernseher und die Couch im Wohnzimmer.
»Verschwinde«, sagte sie. »Bis du wieder runterkommst, habe ich die hier fertig.«
»Danke, Mum.« Danny war schon auf der Treppe, als jemand läutete. »Soll ich hingehen?«, rief er herunter.
»Ich gehe schon. Wahrscheinlich ist es Bernie.«
Aber als Annie die Tür öffnete, stand keineswegs ihre Freundin Bernadette davor. Stattdessen blickte sie auf ein zerlumptes, dürres Mädchen in viel zu großen, unten hochgekrempelten Bluejeans und einem Hemd, in dem es halb verschwand. Die Kleine sah aus wie höchstens fünfzehn und wirkte mit ihren unter die Kappe gestopften Haaren wie eine junge Ausreißerin.
»Tut mir leid, Liebes«, sagte Annie sofort, als sie die Tasche in ihrer Hand sah. »Ich nehme keine Untermieter mehr auf.«
Auch das hatte sie Dannys
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