Die vergessene Frau
Tunnel war dunkel und feucht; auf dem Boden sammelte sich das Wasser, und die Wände waren mit schleimigem Moos überzogen. Ratten huschten vorbei und strichen dabei über Caras Beine; sie biss die Zähne zusammen, um nicht zu schreien. Als sie in die kalte Nacht trat, atmete sie tief durch und stärkte sich kurz an der frischen Luft und der neu gewonnenen Freiheit. Trotzdem durfte sie nicht rasten – noch war sie nicht in Sicherheit.
Cara stolperte weg von den Mauern des Waisenhauses und sah sich ängstlich um. Eigentlich sollte hier ein Auto auf sie warten. Sie kniff die Augen zusammen und versuchte wenigstens Umrisse auszumachen. Allerdings konnte sie nichts erkennen. Gerade als sie in Panik zu geraten drohte, hörte sie ein leises Zischen in der Dunkelheit.
»Hier. Hierher.«
Obwohl sie sich bei jedem Schritt schwächer fühlte, folgte sie der Stimme, bis eine Hand sie packte und festhielt. Sie hob den Kopf und erwartete schon halb, sich Schwester Concepta gegenüberzusehen, die sie ins Waisenhaus zurückschleifen würde, aber stattdessen stand ein untersetzter Mann mit orange flammendem Haar vor ihr, dessen Haut einst käseweiß gewesen war, aber von der Arbeit an Deck rot gebrannt worden war. Es war Schwester Agnes’ Bruder Declan.
»Hier lang. Ich konnte nicht näher parken, sonst hätten sie den Motor gehört.«
Bis zum Wagen waren es weitere zweihundert Meter. Declan drehte sich immer wieder um, als rechne er damit, dass man sie verfolgen würde. Cara bekam Seitenstechen und musste stehen bleiben, um Atem zu holen. Schließlich hatten sie den Wagen erreicht. Declan beugte sich über den Rücksitz und zog eine Tasche heraus.
»Hier.« Er warf ihr ein paar Sachen zu. »Zieh die hier an.«
Während sie ihre Waisenhausuniform ablegte, ließ er den Wagen warmlaufen.
»Steig ein«, befahl Declan, sobald sie umgezogen war.
Bisher hatte er Cara immer nur Befehle zugebellt. Sie hatte das Gefühl, dass er ihr nicht wirklich gern half. Andererseits konnte sie ihm das nachfühlen: Wenn sie erwischt wurden, würde man ihn womöglich verhaften. Auch als sie losfuhren, machte Declan keine Anstalten, mit ihr zu reden. Darum drehte sich Cara stattdessen um und beobachtete, wie hinter ihnen der düstere Schatten des Waisenhauses immer kleiner wurde. Es war ein beruhigender Anblick.
In Cork dämmerte es bereits. Ein Sturm braute sich zusammen, der dunkle Atlantik brodelte, und der Wind rüttelte so an dem Wellblechdach über Declans Wohnhütte am Kai, dass man weder schlafen noch sich unterhalten konnte.
Das Boot konnte den ganzen Tag über nicht ablegen. Erst nach achtundvierzig Stunden war der Sturm halbwegs abgeflaut und das Wasser ruhig genug, um in See zu stechen. Trotzdem war es eine unruhige Überfahrt. Cara hockte im Bug des Schiffes und durfte keinesfalls an Deck kommen, damit niemand aus der Mannschaft sie sah. Später sollte sie sich nur noch daran erinnern, dass sie die ganze Reise über schrecklich seekrank gewesen war. Declan hatte ihnen etwas zu essen gekocht, bevor er Cara an Bord geschmuggelt hatte, eine Fleischpastete mit Stampfkartoffeln, doch das Schaukeln des Bootes brachte auch Caras Magen ins Schaukeln, bis sie alles erbrach, was sie gegessen hatte, und nur noch trocken würgen konnte.
Als das Boot endlich anlegte, konnte Cara es kaum erwarten, an Land zu kommen. Aber sie musste warten, bis die Ladung gelöscht war, damit niemand sie sah.
Die Liverpooler Docks waren laut, lärmend und schmutzig. Große, ungeschlachte Arbeiter warfen sich Säcke zu, trugen Fässer oder Kisten, rissen derbe Witze, lachten und sangen.
Als sie an Deck kam und das chaotische Durcheinander beobachtete, trat Declan zu ihr.
»Du verschwindest?«
Er hatte ihr angeboten, ein paar Nächte in seinem Zimmer in der Herberge zu übernachten. »Bis du wieder auf die Beine gekommen bist.« Doch Cara hatte abgelehnt. Sie hatte das Gefühl, dass er ihr nur seiner Schwester zuliebe geholfen hatte, nach England zu kommen, und jetzt, wo sie hier waren, wäre es nicht richtig gewesen, ihm noch länger zur Last zu fallen.
»Ja. Ich will so schnell wie möglich weiter.« Sie hatte recht, er sah erleichtert aus. Ehrlich gesagt konnte sie ihn verstehen. Er hatte für sie, eine Fremde, schon seinen Job und seinen Lebensunterhalt aufs Spiel gesetzt. Mehr konnte sie nicht von ihm verlangen.
»Also, dann noch viel Glück oder so«, meinte er verlegen. Er wühlte in seinen Taschen und streckte ihr eine 10-Pfund-Note hin, so als
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