Die vergessene Frau
schloss die Augen und wartete darauf, dass seine Reue und seine Schuldgefühle betäubt wurden, dass er alles vergessen konnte und endlich Frieden fand, wenigstens für ein paar Stunden.
VIERTER TEIL
1962–1969
Wachstumsschmerzen
»Fehler sind die Wachstumsschmerzen der Weisheit.«
WILLIAM GEORGE JORDAN, AMERIKANISCHER ESSAYIST, 1864–1928
Kapitel 36
London, 1962
»Alles in Ordnung, Mum?«
Danny Connolly kam in die Küche stolziert, stemmte seine Hand schwer auf die Schulter seiner Mutter und hauchte einen leichten Kuss auf ihre Stirn.
»Es geht schon.«
Annie, die bei einer Tasse Tee den Daily Express gelesen hatte, lächelte ihr Lieblingskind an. Mit seinen achtzehn Jahren war Danny zu einem kräftigen, gutaussehenden Mann herangewachsen, und sie war immer wieder stolz auf ihn. Ihre beiden Mädchen, Bronagh und Maureen, waren inzwischen verheiratet und hatten eigene Familien, und als sie damals ausgezogen waren, war Annie wahrhaftig nicht unglücklich gewesen, sie ziehen zu lassen. Aber Danny wohnte immer noch bei ihr, und sie hoffte, dass das noch lange so bleiben würde.
»Trinkst du mit mir eine Tasse Tee, mein Lieber?«, fragte sie ihn jetzt.
»Nein. Ich zieh mich nur kurz um, dann bin ich wieder weg.«
Das überraschte sie nicht. So viele junge Frauen waren auf ihn aus; wenn er nicht gerade zu arbeiten hatte, zog er mit einer von ihnen herum. Inzwischen war er öfter unterwegs als daheim, aber trotzdem kam er hin und wieder gern nach Hause – und sei es nur, um sich aufs Ohr zu legen, seine Wäsche machen zu lassen und etwas Warmes in den Bauch zu bekommen.
Annie stand auf. »Du kannst doch nicht mit leerem Magen weggehen. Ich mache dir ein Sandwich, während du dich umziehst, und dann wirst du dich hinsetzen und es essen wie ein ganz normaler Mensch.« Ihr Tonfall duldete keinen Widerspruch.
»Wenn du meinst, Mum.«
Falls einer von Dannys Freunden gesehen hätte, wie schnell er klein beigab, hätte er seinen Augen nicht getraut. Auf der Straße legten sich nicht einmal die härtesten Kaliber mit Danny Connolly an, bei seiner Mutter hingegen verwandelte er sich in ein Schmusekätzchen. Sie war sein einziger Schwachpunkt und die einzige Frau, die er wirklich respektierte.
Nur aus Rücksicht auf sie hatte er es so lange mit diesem Schwein Liam Earley ausgehalten. Nachdem der Mann bei ihnen eingezogen war, hatten sich die Prügel, die Franny vor so vielen Jahren beobachtet hatte, zu einem festen Bestandteil von Dannys Leben entwickelt. Liam war immerhin so klug gewesen, die schlimmsten Auswüchse vor Annie zu verbergen – und falls sie etwas bemerkt hatte, hatte sie es großzügig übersehen, weil sie damals auf Liams Geld und Gesellschaft angewiesen war. Aber die Misshandlungen durch den Liebhaber seiner Mutter hatten den Jungen fürs Leben geprägt, hatten Danny abstumpfen lassen und ihn zu dem harten Burschen gemacht, der er jetzt war.
Mit fünfzehn war Danny endlich größer und stärker als Liam. Er hatte sich auch weiterhin schlagen lassen, doch als Liam seine Fäuste gegen Annie erhoben hatte, hatte Danny sofort reagiert. In jener Nacht hatte er Liam die Tracht Prügel seines Lebens verabreicht – und ihm dabei jedes einzelne Mal heimgezahlt, bei dem ihn Liam mit den Fäusten durchs Haus getrieben hatte. Nachdem Danny mit ihm fertig war, hatte er ihn vor dem Royal London Hospital abgeladen. Die Ärzte und Krankenschwestern hatten ihr Bestes gegeben, dennoch hatte der Mann sein linkes Augenlicht verloren, und die Narben in seinem Gesicht waren zwar im Lauf der Zeit verheilt, aber sie würden nie verblassen: Sie würden ihn für immer an seine Bestrafung erinnern.
Die Gerüchte über die Rache des jungen Knaben hatten sich in Windeseile durch das ganze East End verbreitet. Annie hatte Angst gehabt, dass er ins Gefängnis wandern könnte, allerdings wäre Danny durchaus bereit gewesen, seine Zeit abzusitzen. Liam hatte Gift und Galle gespuckt und hätte alles dafür gegeben, seinen Stiefsohn hinter Gitter zu bringen, aber bevor die Polizei ihn befragen konnte, hatte Finnbar Sullivan, der Anführer der einflussreichsten und gefürchtetsten irischen Gang im East End, jemanden bei ihm vorbeigeschickt, der sich in aller Ruhe mit ihm unterhalten hatte. Als schließlich ein Polizist auftauchte, um Liams Aussage aufzunehmen, erzählte Liam, dass er auf offener Straße überfallen und ausgeraubt worden sei.
Natürlich hatte Finnbar Danny den Gefallen nicht aus reiner Herzensgüte erwiesen –
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