Die vergessene Frau
an und versuchte sich über die Konsequenzen klar zu werden. Dann ergänzte sie: vor oder nach Fs Tod? War sie ihnen im Weg? Wollten die beiden sie loswerden?
Sie starrte auf die Worte und merkte, wie eine Gänsehaut sie überlief. Obwohl sie todmüde war, fand sie an jenem Abend lange keinen Schlaf.
Kapitel 53
Am nächsten Morgen ging Cara durch den Korridor zu dem Bad, das Hilda ihr am Vortag gezeigt hatte. Die Armaturen waren uralt, und so dauerte es eine halbe Ewigkeit, bis die Dusche ansprang und das Wasser klopfend durch die alten Rohre rauschte.
Unten war die Köchin, Mrs Jameson, bereits am Werk. An diesem Morgen war die Küche eindeutig ihr Hoheitsgebiet. Sie fragte Cara, was sie zum Frühstück wollte, und erklärte ihr dann, dass sie alles ins Frühstückszimmer bringen würde. Cara hätte lieber nur einen Blick in den Kühlschrank geworfen und sich mit etwas Obst und Joghurt begnügt, aber sie hatte das Gefühl, dass das nicht gern gesehen war.
Während Cara im Frühstückszimmer saß und ihre Pfannkuchen aß, hörte sie ein unablässiges Knarren an der Decke, so als würde etwas, zum Beispiel ein Kinderfahrrad, über den Boden geschoben.
»Was ist das?«, fragte Cara, als Mrs Jameson wieder hereinkam, um ihren Teller abzuräumen.
»Das ist Mr Stanhopes Rollstuhl«, antwortete sie sachlich. »Der auf den Dielen hin und her rollt.«
Als Cara gerade ihre zweite Tasse Kaffee trank, ging die Doppeltür auf und Hilda trat ein.
»Es tut mir leid, aber Mr Stanhope fühlt sich auch heute nicht in der Lage, mit Ihnen zu sprechen.«
Cara verließ der Mut. Sie hätte die Sache gern möglichst bald hinter sich gebracht, statt noch länger zu warten.
»Können Sie mir sagen, wie ernst es ist? Besteht überhaupt Aussicht, dass es ihm morgen besser geht?«
Die Haushälterin antwortete schmallippig: »Das weiß ich beim besten Willen nicht. Aber er wird es Sie wissen lassen, wenn er sich bereit fühlt.«
Hilda verschwand, aus ihrer letzten Antwort schloss Cara allerdings, dass Max keineswegs zu krank war, sondern einfach nicht mit ihr sprechen wollte. Sie fragte sich warum. Schließlich hatte er sie selbst hergebeten. Das war alles so frustrierend. Offenbar war sie auf seine Einladung hin aus London angereist, nur damit er ihr jetzt die kalte Schulter zeigt. Aber so wie es aussah, konnte sie nichts daran ändern – nur abwarten.
Cara verbrachte den Vormittag in ihrem Zimmer und ging noch einmal alle Artikel über Max und ihre Mutter durch. Dann, nach dem Mittagessen, machte sie einen Spaziergang durch die verwilderten Gärten. Als sie zum Haus zurückkehren wollte, fiel ihr ein Mann Anfang dreißig auf, der auf der Terrasse stand. In seiner Hippiekleidung, mit den langen dunklen Haaren und seinem Bart wirkte er fehl am Platz vor den altehrwürdigen Mauern von Stanhope Castle, und Cara fragte sich halb, ob er sich auf das Grundstück verirrt hatte.
»Sie sind also die Journalistin, richtig?«, begrüßte er sie, als sie näher kam, und strafte ihre Theorie damit Lügen. »Cara, nicht wahr? Ich habe gehört, dass Sie herkommen würden, aber ich wollte mich doch mit eigenen Augen überzeugen.«
»Stimmt. Und Sie sind?«
»Gabriel. Abtrünniger Sohn und Vollzeit-Taugenichts.«
Cara stockte erschrocken. Sie hatte Fotos von Gabriel Stanhope als jungen, achtzehnjährigen Mann gesehen, und damals war ihr sofort aufgefallen, wie gut er aussah und wie charismatisch er wirkte – wie eine dunkelhaarige Version seiner Schwester: Beide hatten den gleichen feingliedrigen Knochenbau, die gleichen hohen, scharfen Wangen und unnatürlich hellblauen Wolfsaugen. Als sie ihn jetzt mit seinen langen Haaren, dem Zauselbart und der verloren wirkenden Haltung sah, hätte sie ihn eher für einen Landstreicher gehalten.
Er setzte sich an den schmiedeeisernen Gartentisch, holte ein Päckchen Rizlas aus seiner Tasche und begann sich eine Zigarette zu drehen. Cara zog sich ebenfalls einen Stuhl heraus und setzte sich, weil sie annahm, dass er das wollte. Selbst wenn nicht, war die Gelegenheit viel zu gut, um sie verstreichen zu lassen. Wenn Max sie schon nicht sehen wollte, hatte vielleicht sein Sohn etwas zu erzählen, das ihr weiterhalf.
»Sie haben also noch nicht mit Dad gesprochen?« Er machte sich nicht die Mühe, sie dabei anzusehen.
»Er war zu krank, um mich zu empfangen.«
Gabriel lachte schnaubend. »Ach ja?«
Um seinen Mund spielte ein kleines Lächeln, so als wüsste er von einem kleinen Streich auf ihre Kosten.
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