Die vergessene Frau
Sechzehnjährige nicht ausreichend entwickelt, um Trauma der Geburt zu überstehen.
Beim letzten Satz stutzte Cara. Sie verstand nicht, was das bedeuten sollte. Betraf dieser Eintrag eine ganz andere Frau?
Dann dämmerte es ihr. Damals hatte wirklich eine Sechzehnjährige im Haus der Stanhopes gelebt, ein Mädchen, das womöglich schwanger geworden war und dessen Vater und Stiefmutter alles getan hätten, um einen Skandal zu vermeiden.
»Olivia«, flüsterte sie.
Nicht Franny, sondern Olivia hatte damals ein Kind zur Welt gebracht. Warum aber hatte ihre Mutter behauptet, es sei ihres gewesen?
Kapitel 54
Stanhope Castle, Juni 1958
Franny und Olivia saßen beim Frühstück. Es war Mittwoch, und die Ferien hatten noch nicht begonnen, aber Max’ Tochter war zu Hause, weil man sie eine Woche vom Unterricht ausgeschlossen hatte. Die Rektorin hatte am Freitag der vergangenen Woche angerufen und eine Erklärung verlangt, warum Olivia seit einigen Wochen nicht mehr am Sportunterricht teilnahm. Weder Franny noch Max hatten etwas davon gewusst. Franny hatte sich bereiterklärt, bei der Rektorin vorzusprechen. Die hatte ihr zehn Entschuldigungszettel gezeigt, alle angeblich von ihr selbst unterschrieben, in denen erklärt wurde, dass Olivia wegen Rückenschmerzen nicht am Sportunterricht teilnehmen könne. Die Unterschrift war erstaunlich gut gefälscht.
Max hatte hinterher gemeint, das sähe Olivia gar nicht ähnlich. Bei Gabriel hätte er sich so etwas durchaus vorstellen können, hatte er angemerkt. Aber Olivia hatte ein so sanftes Wesen und ihn noch nie hintergangen. Franny hatte keine Ahnung, was mit ihrer Stieftochter los war. In dem Jahr, nachdem sie Max geheiratet hatte, hatte sich Olivia ihr langsam geöffnet, doch in letzter Zeit zog sie sich wieder in ihr Schneckenhaus zurück.
Franny nahm einen Schluck Kaffee und betrachtete ihre mürrische Stieftochter. Auf der anderen Seite des Frühstückstisches hockte Olivia gebeugt auf ihrem Stuhl und schaufelte Haferflocken auf ihren Löffel, nur um sie gleich wieder in die Schüssel fallen zu lassen. Nach dem Ärger mit der Schule hatte Max Franny gebeten, einmal behutsam nachzubohren, was mit dem Mädchen los war. Und dieser Zeitpunkt eignete sich ebenso dafür wie jeder andere.
»Heute ist es wirklich schön draußen«, verkündete sie strahlend.
Olivia reagierte nicht.
»In deinem Pullover musst du doch kochen«, versuchte sie es erneut.
Diesmal ließ sich ihre Stieftochter immerhin zu einem Achselzucken herab, brachte aber trotzdem keinen Ton über die Lippen. Franny beschloss, einen letzten Vorstoß zu unternehmen.
»Wir könnten ja später ausgehen und dir ein paar nette Sommersachen kaufen.«
Das nächste Achselzucken. »Wenn du meinst«, antwortete das Mädchen lustlos.
Franny merkte, wie sie wütend wurde. Das war so demütigend. Sie saß hier und mühte sich ab, und das Mädchen ließ sich nicht einmal dazu herab, ihr anständig zu antworten. Und es war nicht so, als hätte Franny nicht eigene Probleme. Die Gerüchte über sie und den Gärtner, die im Confidential abgedruckt worden waren, belasteten ihre Beziehung zu Max. Sie brauchte wirklich nicht noch mehr Sorgen.
»Herrgott noch mal, Olivia!«, fuhr sie ihre Stieftochter an. »Was ist um Himmels willen mit dir los?«
Frannys barscher Tonfall schreckte das Mädchen tatsächlich aus seiner Trance. »Nichts«, antwortete Olivia mürrisch.
»Also, nichts kann es nicht sein.« Wenn sie mit Nettigkeit nichts erreichte, musste sie es eben mit liebevoller Strenge probieren. »Du schleichst seit Wochen durchs Haus wie ein Gespenst. Ich habe deine Launen allmählich satt. Wir haben alle Probleme. Wenn dich etwas beschäftigt, dann erzähl es mir, damit ich dir helfen kann. Wenn nicht, dann reiß dich endlich zusammen.«
»Lass mich einfach in Ruhe!«
»Na schön«, sagte Franny. »Wenn das so ist, dann geh auf dein Zimmer.«
Ihre Stieftochter sprang auf. Genau in diesem Moment brach die Sonne durch die Wolken, schien durch das Fenster auf Olivia und leuchtete durch den Baumwollpullover, sodass die Silhouette ihres Körpers darunter zu erkennen war und vor allem der runde Bauch, der nur eines bedeuten konnte. Franny schnappte nach Luft, und Olivia drehte sich zu ihr um.
»Was ist jetzt schon wieder?«, wollte das Mädchen wissen.
Einen Moment fehlten Franny die Worte, weil sie zu beschäftigt war, diese neue Erkenntnis zu verarbeiten und in Einklang mit dem zu bringen, was sie bereits wusste. Sie
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