Die vergessene Frau
Sie fragte sich, wie viel er über sie wusste, und kam zu dem Schluss, dass es wahrscheinlich mehr war, als er zu erkennen geben würde.
»Und was bringt Sie hierher?«, fragte Cara. »Wollen Sie Ihre Schwester besuchen?«
Eine Wolke zog über Gabriels Gesicht, und plötzlich wirkte er gar nicht mehr gut gelaunt.
»Nein«, antwortete er knapp.
»Und warum …?« Sie ließ die Frage in der Luft hängen.
»Ich bin hier, um meinen Vater zu besuchen. Als ich hörte, dass er nicht mehr lange zu leben hat, habe ich beschlossen, die letzten Monate hier bei ihm zu verbringen. Sobald hier alles vorbei ist, bin ich wieder weg und in Marokko.«
Falls seine kalten Worte Cara schockierten, so versuchte sie, das nicht zu zeigen.
»Sie haben sich ausgesöhnt?«, fragte sie stattdessen. Sie konnte sich nicht entsinnen, etwas von einer Versöhnung zwischen Vater und Sohn gelesen zu haben.
Das Lächeln kehrte zurück. »Wir waren nie zerstritten.«
»Aber ich dachte, Sie hätten seit Jahren kein Wort miteinander gewechselt.«
»Na und?« Gabriel schien sich zu amüsieren. »Das heißt doch nicht, dass wir uns gestritten haben. Es gibt viel schwerwiegendere Gründe, nicht mit jemandem sprechen zu wollen.«
Cara hatte keine Ahnung, was er damit sagen wollte. Es kam ihr so vor, als würde er jeder ihrer Fragen ausweichen und nur in Rätseln sprechen, von denen ihr der Kopf schwirrte.
Beide drehten sich um, als sie jemanden gegen die Scheibe klopfen hörten. Hinter einem der Erdgeschossfenster saß ein alter Mann und schaute grimmig zu ihnen heraus. Er sah abgezehrt aus, hatte dichtes weißes Haar und wirkte wie verloren in seinen Kleidern. Cara brauchte ein paar Sekunden, um zu begreifen, dass das Max Stanhope sein musste. Er sah mindestens zehn Jahre älter aus.
Nachdem er seinen Sohn auf sich aufmerksam gemacht hatte, deutete er auf ihn und winkte ihn herein.
»Huch«, sagte Gabriel. »Scheint, als hätte er uns erwischt.«
Sofort wurde Cara hellhörig. »Ihr Vater will nicht, dass Sie mit mir sprechen?«
»Fühlen Sie sich nicht allzu geschmeichelt. Wenn es nach meinem Vater ginge, würde ich mit gar niemandem reden.«
Cara nickte zu dem Fenster hin, hinter dem Max saß. »Was ist das für ein Raum?«
»Das ist sein Arbeitszimmer. Dort verbringt er die meiste Zeit.«
Gabriel war schon aufgestanden. Cara begriff, dass dies die letzte Möglichkeit war, ihn zum Reden zu bringen, bevor er verschwand. »Glauben Sie, dass ich Olivia dazu bringen könnte, mit mir zu sprechen?«
Gabriels Lächeln verzog sich zu einem ironischen Lächeln. »Das würde ich gern sehen.«
Cara sah Gabriel nach, bis er im Haus verschwunden war. Sie konnte Stimmen hören, aber nichts verstehen. Trotzdem schälte sich nach Gabriels Bemerkung eine Idee in ihrem Kopf heraus. Wenn Max nicht mit ihr sprechen wollte, würde sie eben eigene Nachforschungen anstellen müssen. Und sie wusste schon jetzt, wo sie damit anfangen würde.
Offenbar lag der Schlüssel zu allem bei Frannys Fehlgeburt. Nachdem sie danach angeblich in jene tödliche Abwärtsspirale geraten war, würde sich Cara fortan darauf konzentrieren.
Der Name des Arztes, der Franny bei der Geburt betreut hatte, ließ sich leicht finden: Es war Dr. Robertson, der Hausarzt der Stanhopes. Sein Name stand in fast jedem Zeitungsartikel. Offenbar hatte er damals als Sprecher der Familie agiert, und mehrmals wurde seine Erklärung zitiert, was bei der Entbindung passiert war. Demnach hatte Franny auf einer Hausgeburt bestanden. Leider war es während der Wehen zu unvorhergesehenen Komplikationen gekommen, weil das Baby in Steißlage zur Welt gebracht werden musste. Ohne ein Krankenhaus in der Nähe war es nicht möglich gewesen, die nötige Operation durchzuführen, um das Kind zu befreien.
Das fand sie besonders befremdlich – die Vorstellung, dass sich Franny für eine Hausgeburt entschieden hatte. Damals in ihren Elendszeiten im East End hatte Franny keine andere Wahl gehabt, als bei Annie zu Hause zu gebären. Aber warum sollte sie sich dieser Tortur freiwillig ein zweites Mal unterziehen, wo sie inzwischen reich genug war, um sich die beste medizinische Fürsorge leisten zu können?
Cara hatte den Verdacht, dass Max, sollte er erfahren, was ihr vorschwebte, alles unternehmen würde, damit sie nicht einmal in Dr. Robertsons Nähe kam. Ihr blieb also nichts anderes übrig, als eine List einzusetzen, um an die medizinischen Unterlagen ihrer Mutter zu kommen. Sie rief in Dr. Robertsons
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