Die vergessene Frau
Praxis an und gab sich als Ehefrau Harvey Covingtons aus, eines berühmten englischen Produzenten, der vor Kurzem in die Gegend gezogen war. Cara hatte in einer Lokalzeitung von ihm und seiner Frau gelesen und wusste, dass der Name bekannt genug war, um bis zur Praxis vorgedrungen zu sein, aber dass kaum jemand eine Ahnung hatte, wie die beiden aussahen. In Wahrheit war Emma Covington fünfzig und kräftig gebaut, doch bei Caras Telefonat war sie Mitte zwanzig und frisch verheiratet. Die Arzthelferin stellte ihre Maskerade keine Sekunde in Zweifel und gab ihr gleich am folgenden Tag einen Termin.
Die Praxis von Dr. Robertson war wie die der meisten Privatärzte an ein elegantes Wohnhaus angebaut und lag im Zentrum von San Francisco. Cara hatte sich keinen ausgefeilten Plan zurechtgelegt, sondern beschlossen, sich auf ihr Improvisationstalent zu verlassen. Sie war sich im Klaren, dass sie den Arzt irgendwie aus dem Behandlungszimmer schaffen musste, wenn sie seine Patientenakten durchforsten wollte. Sie hatte sich grob zurechtgelegt, dass sie irgendwann in Ohnmacht fallen würde, damit er hoffentlich ein Glas Wasser holen ging. Aber wie sich herausstellte, war das gar nicht notwendig. Er wurde nach draußen gerufen, um mit einer Patientin zu sprechen, die spontan aufgetaucht war, um sich wegen eines Medikaments zu erkundigen.
»Entschuldigen Sie mich einen Augenblick, Mrs Covington?«
Kaum war er aus dem Raum, schritt Cara zur Tat. Nachdem sie die Tür einen Spaltbreit geöffnet hatte, sodass sie die Unterhaltung draußen verfolgen konnte und wusste, wann der Arzt zurückkommen würde, eilte sie zu den Aktenschränken. Sie waren abgeschlossen. Auf dem Schreibtisch sah Cara einen Schlüsselbund liegen, griff danach und probierte nach einem kurzen Blick auf das Schloss den kleinsten Schlüssel aus. Sie hatte Glück. So leise wie möglich zog sie die mittlere Schublade auf. Dort waren die Akten mit den Anfangsbuchstaben M bis P archiviert. Leise schob sie die Lade wieder zu und versuchte es mit der nächsten. Hier hingen die Akten von Q bis T. Sie blätterte sie hastig durch, bis sie auf den Namen Stanhope stieß.
Cara spitzte die Ohren. Draußen verabschiedete sich Dr. Robertson gerade von seiner Patientin.
»Also, wir sehen uns dann am Mittwochnachmittag, und wenn die Antibiotika bis dahin nicht gewirkt haben, werde ich Ihnen etwas anderes verschreiben.«
Cara blieb keine Zeit mehr, die Akte zu lesen, darum faltete sie die Unterlagen hastig zusammen und stopfte sie in ihre Handtasche. Dann drückte sie die Schublade wieder zu und schloss sie ab. Als der Doktor Sekunden später ins Zimmer trat, saß sie wieder auf ihrem Platz, als hätte sie sich nicht von der Stelle gerührt.
»Bitte entschuldigen Sie die Unterbrechung«, sagte er noch in der Tür.
Doch Cara war bereits aufgestanden. »Ehrlich gesagt ist mir gerade eingefallen, dass ich gleich eine wichtige Verabredung habe.« Sie schob sich an ihm vorbei und öffnete die Tür. »Ich rufe später wieder an und mache einen neuen Termin aus.«
Bevor er etwas darauf erwidern konnte, eilte sie aus der Praxis. Mit pochendem Herzen lief sie zu ihrem Auto, halb damit rechnend, dass ihr jemand nachgelaufen kam und die Akte einforderte. Aber wie wahrscheinlich war das?, beruhigte sie sich und legte den Rückwärtsgang ein. Mit Sicherheit wurden diese alten Unterlagen nie kontrolliert.
Als sie weit genug von der Klinik entfernt war, bog sie auf einen Parkplatz und zog die Akte aus ihrer Handtasche. Fieberhaft ging sie Seite für Seite durch und überflog die Einträge, auch wenn sie die krakelige Handschrift und eigenwilligen Abkürzungen des Mediziners kaum entziffern konnte. Es gab mehrere Einträge zu verschiedenen Besuchen in der Praxis: einer ersten Konsultation und danach mehreren Schwangerschaftstests. Alle waren negativ. Der letzte Test war im April 1958 vorgenommen worden. Auch der war negativ ausgefallen, danach gab es keine Einträge über einen Arztbesuch mehr.
Das war eigenartig. Im Juni 1958 hatte Franny ihren Freunden erzählt, dass sie schon im vierten Monat schwanger sei.
Der letzte Eintrag betraf die Geburt selbst, was bedeutete, dass Franny den Arzt während ihrer Schwangerschaft kein einziges Mal aufgesucht hatte. Auch das kam Cara seltsam vor, weil es so gar nicht zu ihrer Mutter passte. Sie las weiter.
Um zwei Uhr morgens wg. Hausgeburt nach Stanhope Castle gerufen. Mutter bei Ankunft ber. zwanzig Stunden unter Wehen. Delirant vor Schmerzen.
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