Die vergessene Frau
ausgesehen haben musste: Die teuren Teppiche waren abgewetzt; die Tapeten in der Sonne ausgebleicht; in der Wandvertäfelung entdeckte sie Löcher, als würden Mäuse dahinter hausen. Alles vermittelte das Gefühl, dass der Besitzer des Gebäudes endgültig kapituliert hatte. Der neu eingebaute Lift war dem Anschein nach das Einzige, was in letzter Zeit verändert worden war. »Mr Stanhope hat ihn nach seiner letzten Operation einbauen lassen«, erläuterte Hilda. »Er braucht inzwischen einen Rollstuhl.«
Die Haushälterin führte Cara die Haupttreppe hinauf, dann einen Korridor entlang, durch eine Tür und zwei weitere kleine, steile Treppen hinauf, bis sie endlich zu dem Zimmer kamen, das man ihr zugedacht hatte. Sobald die Haushälterin die Tür öffnete, wehte ihnen ein muffiger Geruch entgegen. Das ganze Zimmer war vollgestellt wie eine Abstellkammer. Offenbar hatte man Anweisung gegeben, das Zimmer zu putzen, aber das war nur oberflächlich geschehen: Cara bemerkte eine dicke Staubschicht unter dem Bett, wo man zu saugen vergessen hatte. Nur eines sprach für das Zimmer, und das war die Aussicht: Zwei weite Terrassentüren – die man in der verspäteten Bemühung, den Raum zu lüften, aufgerissen hatte – führten hinaus auf einen fußbreiten Balkon, von wo man auf den dunklen Ozean blickte.
»Ich hoffe, das genügt Ihnen.« Hilda sah sich kurz abfällig um. »Max beschäftigt inzwischen so wenige Leute hier, dass es schwierig ist, alles so in Schuss zu halten, wie es richtig wäre.«
Max hatte bestimmt, dass niemand außer Hilda auf dem Anwesen wohnen durfte. Eine Köchin erledigte die Einkäufe und kam täglich vorbei, um die Mahlzeiten zu bereiten, erklärte sie Cara. Abgesehen davon gab es noch zwei Zimmermädchen, die einmal wöchentlich zum Putzen kamen. Weil es zu viele Zimmer gab, als dass man alle sauber halten konnte, blieben die meisten Räume verschlossen.
»Und wo wohnen Sie?«, fragte Cara neugierig.
Hilda zögerte kurz. »Nicht hier im Haupthaus«, antwortete sie. Sie trat ans Fenster und deutete auf ein niedriges weißes Gebäude, eines von insgesamt vier Gästehäusern. »Mr Stanhope hat mir vor Jahren erlaubt, dort zu wohnen. Auf diese Weise bleibt mir eine gewisse Privatsphäre.«
»Und dort wohnt auch Max’ Tochter Olivia?«
Cara hatte das eigentlich als Frage gemeint, doch offenbar nahm Hilda es als Feststellung, denn sie antwortete nicht.
Danach ließ die Haushälterin sie alleine. Inzwischen war es fast neun, und der Hunger trieb Cara in Richtung Küche. Der riesige Raum war in den Tiefen des Hauses untergebracht und, wenn auch abgenutzt und altmodisch, makellos sauber. Wie die Haushälterin versprochen hatte, stand etwas zu essen im Ofen. Cara zog den warmen Teller heraus und rümpfte die Nase. Es hätte Coq au vin sein sollen, aber jetzt war es nur noch eine vertrocknete, verschrumpelte Masse. Sie kippte das Essen in den Müll, ging stattdessen zum Speiseschrank und entdeckte etwas altes Brot und ein Stück Käse. Nachdem sie die harte Rinde abgeschnitten hatte, schaffte sie es, ein halbwegs essbares Sandwich zusammenzustellen. Wenigstens war die Milch frisch und kalt genug, um sich ein Glas einzuschenken. Sie aß in der stillen Küche, an die Spüle gelehnt, schnell und ohne großes Aufhebens, und kehrte danach in ihr Zimmer zurück.
Das Haus war so groß und verwinkelt, dass sie drei Anläufe brauchte, um zurückzufinden. Inzwischen merkte Cara, wie müde sie war. Der Abend war warm und das Zimmer immer noch stickig, darum trat sie auf den schmalen Balkon, um sich abzukühlen. Während sie am Geländer stand, die frische Luft einatmete und dem Donnern der Wellen am Strand lauschte, bemerkte sie eine Bewegung unten im Garten. Sie beugte sich vor und entdeckte einen Mann im Rollstuhl, der auf einem schmalen Weg vom Haupthaus weg durch den überwucherten Garten rollte. Es war Max. Im bleichen Licht des Vollmondes beobachtete sie, wie er auf den Gästebungalow zuhielt, in dem Hilda wohnte. Offenbar hatte die Haushälterin auf ihn gewartet, denn sobald er sich näherte, öffnete sich die Tür. Er rollte über die Rampe und verschwand im Haus.
Cara wartete zehn Minuten, doch er kam nicht wieder heraus. Sie ging zum Bett, holte ihren Notizblock heraus und schlug eine neue Seite auf. Unter der Überschrift »Hilda« beschrieb sie kurz, was die Haushälterin ihr vorhin erzählt hatte. Ganz unten vermerkte sie für sich: Waren M&H vielleicht ein Paar? Lange starrte sie diesen Satz
Weitere Kostenlose Bücher