Die vergessene Frau
Schließlich war das Etablissement in ganz London als eleganter, glamouröser Treffpunkt bekannt, wo an den Wochenenden oft bekannte Stars auftraten. Hier gab es eine eigene Hauskapelle – die Blues und Jazz spielte – und dazu eine ganze Schar junger, aufstrebender Talente.
Der Eingang zum Club befand sich genau gegenüber der U-Bahn, am unteren Ende einiger mit rotem Teppich überzogener Stufen. Franny durfte dort genauso wenig eintreten wie die anderen Angestellten, darum huschte sie durch den Nebeneingang ins Haus und eilte zur Umkleide, um ihre Uniform anzulegen. Die anderen Mädchen beschwerten sich oft, dass sie sich so verkleiden mussten, doch Franny tat das für ihr Leben gern. Sie konnte sich keine neuen Kleider leisten, und die Uniform war zwar nicht besonders elegant, aber immerhin stellte sie eine Abwechslung zu ihrem üblichen schlichten blauen Kleid mit Strickjacke dar. Jeden Abend malte sie sich aus, sie würde sich umziehen, um danach auf die Bühne zu treten.
Die Umkleide war ein langer, belebter Raum, an dessen einer Wand mehrere Schminktische standen. Männer und Frauen zogen sich im selben Raum um. Für die Stars, die im Club auftraten, gab es nebenan zwei feudal eingerichtete Privatgarderoben, die Angestellten mussten sich hingegen mit der schlichten Umkleide begnügen. Franny schlüpfte in eine undurchsichtige Strumpfhose und einen Gymnastikanzug, beides in Schwarz, und vervollständigte danach ihre Aufmachung mit Frackschößen, Manschetten und einem kleinen Zylinder, alles in Rot. Zuletzt verhakte sie die Schließe an ihrem kessen Stehkragen, und dann eilte sie nach vorn, damit sie in der Garderobe stand, wenn der Club um sieben Uhr öffnete. Hazel, eine mürrische Peroxidblondine, die sich mit ihr die Schichten teilte, erwartete sie bereits.
»Heute Abend wird es schlimm«, meinte das Mädchen unheilvoll, sobald es Franny entdeckte. »Wir sind völlig ausgebucht.«
»Natürlich! Heute tritt Vera Lynn auf.«
Franny konnte ihre Aufregung nicht verhehlen, doch Hazel reagierte nur mit einem unverständlichen Brummen. Wahrscheinlich hätte sie noch etwas gesagt, aber in diesem Moment trafen zwei große Gruppen ein, und die Mädchen hatten keine Zeit mehr zu schwatzen, sondern alle Hände voll zu tun, die Mäntel der Gäste aufzuhängen.
Hazel beschwerte sich ständig über den Victory Club – die Arbeitszeiten, die Langeweile, die Bezahlung – und versicherte Franny immer wieder, sie könne es nicht erwarten, hier aufzuhören. Doch Franny wollte nicht in den Kopf, worüber sich ihre Kollegin beklagte: Sie liebte einfach alles an diesem Club. Hier war von den Nöten der Nachkriegszeit nichts zu spüren: Die Restaurants waren von den Rationierungen ausgenommen, darum standen Leckereien wie Rind und Ente, Fasan und Wild auf der Karte. Wein, Branntwein und Port gab es ebenfalls im Überfluss. In der Küche blieb immer etwas übrig, und meistens bekamen Franny und die anderen Angestellten nachts noch etwas Gutes zu essen – obwohl es natürlich etwas anderes war, als zahlender Gast dort zu speisen. Die Gäste dinierten im Kerzenschein an den Tischen, während die Kapelle spielte, und wenn es später wurde und die Teller abgeräumt waren, begab man sich auf die Tanzfläche.
Franny wäre für ihr Leben gern als Gast in den Club gekommen. Manchmal schlüpfte sie in einem unbeobachteten Moment in einen der Pelzmäntel und malte sich aus, wie schön es wäre, etwas so Teures zu besitzen. Selbst jetzt hielt Franny an ihren Träumen fest. Sie hatte nur noch keinen Weg gefunden, sie wahr zu machen.
Gegen zehn Uhr waren die meisten Tische besetzt, und das Abendprogramm war in vollem Gang. Franny wusste aus Erfahrung, dass es in der Garderobe ruhig bleiben würde, bis sich die Gäste gegen Mitternacht auf den Heimweg machten.
»Ich mache Pause«, erklärte sie Hazel. Ihre Kollegin sah nicht einmal auf, als Franny verschwand; sie war viel zu beschäftigt, mit einem der Kellner zu flirten, als dass sie etwas gemerkt hätte.
Die meisten Mädchen verschwanden in ihren Pausen durch den Hinterausgang, um zu rauchen, aber Franny sah sich lieber das Programm an. Solange sie sich ganz hinten im Schatten hielt, schien sich niemand daran zu stören. Auch an diesem Abend huschte sie in den riesigen Saal. Die alten Holzvertäfelungen und funkelnden Spiegelwände verliehen ihm gehobene Eleganz. Sie kam genau im richtigen Moment. Der Saxofonist beendete gerade sein Solo, und während das Publikum noch
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