Die vergessene Frau
Frau nichts einfiel, worauf sie noch herumreiten könnte, ging sie zu ihrer großen Lederhandtasche. Sie machte ein großes Aufheben darum, sie ständig bei sich zu tragen, wenn Franny im Haus war – so als müsste sie damit rechnen, dass die jüngere Frau sie bestehlen könnte. Mrs Simpson zählte das Geld aus ihrer Börse ab und streckte widerwillig die Hand aus, als würde es sie ärgern, dass sie ihre Putzfrau bezahlen musste.
»Vielen Dank.« Franny steckte das Geld sofort ein. Sie machte sich nicht die Mühe, es nachzuzählen: Nie bekam sie ein Trinkgeld oder einen Bonus, nicht einmal an Weihnachten. Trotzdem gab sie sich Mühe, jedes Mal dankbar zu klingen, denn ihr war bewusst, wie wichtig es für sie war, die Frau bei Laune zu halten. Mrs Simpson ließ oft spitze Bemerkungen fallen, wie teuer Franny sei, und drohte damit, sich jemand anderen zu suchen. Bisher hatte sich Franny nicht herunterhandeln lassen, hauptsächlich, weil Annie ihr den Rücken stärkte. »Du verlangst jetzt schon weniger, als du solltest«, redete sie ihr zu. »Sie probiert es nur.« Franny wusste, dass Annie recht hatte, aber sie wusste auch, dass sie nicht allzu viel riskieren durfte. Da sie auf die Hand bezahlt wurde, hatte sie keinerlei Rechte, und sie wusste nicht, wie schnell sie neue Arbeit finden würde.
Mrs Simpson brachte sie an die Tür – auch das, vermutete Franny, nicht aus Anstand, sondern um sicherzugehen, dass sie unterwegs nichts mitgehen ließ. Es war erst halb fünf, doch draußen war es bereits winterlich dunkel. Die Luft war so kalt, dass Franny die Dampfwolken vor ihrem Mund sah. Mit eisigen Fingern knöpfte sie ihren Mantel zu, dann vergrub sie die Hände in den Taschen und eilte zur U-Bahn, um die vierzigminütige Rückfahrt nach Whitechapel anzutreten. Es wäre einfacher gewesen, direkt in den Club zu fahren, in dem sie abends arbeitete, aber dann hätte sie Cara nicht mehr gesehen, und das wollte sie auf keinen Fall. Franny hatte ihrer Tochter versprochen, sie ins Bett zu bringen, und sie war fest entschlossen, ihr Kind nicht zu enttäuschen.
Die Mutterschaft hatte Frannys beste Seiten zum Vorschein gebracht. Für Cara, ihre Tochter, nahm sie gern jede Mühsal auf sich. Und während der letzten zweieinhalb Jahre hatte es wahrlich genug Mühsal gegeben. Die Slums im Londoner East End konnten einem aufs Gemüt schlagen. Überbelegte Wohnungen, Arbeitslosigkeit, die allgegenwärtige Armut …
Die Geburt selbst war nicht einfach gewesen. Cara war ein großes Kind gewesen, und obwohl Franny volle Hüften hatte, war ihr Becken eher schmal. Annie, erfahren in derlei Dingen, hatte ihr als Hebamme zur Seite gestanden, hauptsächlich, weil sie sich keine richtige leisten konnten. Franny musste zu ihrer Schande gestehen, dass sie nicht besonders tapfer gewesen war. Hinterher hatte Annie sie damit aufgezogen, dass man ihre Schreie noch fünf Straßen weiter gehört hätte, aber damals hatte sie das gar nicht komisch finden können. Dreißig Stunden Wehen in diesem luftlosen Zimmer – denn die Dachkammer war im Winter zwar eisig, aber das war nichts gegen die stickige Hitze im Sommer, in der nicht der leiseste Lufthauch durch das winzige Fenster zu dringen schien.
Zu allem Übel hatte sie sich bei der Geburt auch noch eine Infektion zugezogen. Tagelang hatte sie krank und fiebernd im Bett gelegen, bis Annie schließlich den Arzt holen musste. Er hatte ihr Antibiotika verschrieben, die gegen ihre Blutvergiftung halfen, doch er erklärte ihr auch, dass sie vielleicht keine weiteren Kinder empfangen konnte. Ehrlich gesagt war Franny nach allem, was sie durchgestanden hatte, nicht sicher, ob sie das besonders störte. Sie liebte ihre Tochter über alles, aber sie wusste nicht, ob alles Geld der Welt sie dazu bringen konnte, das ein zweites Mal durchzustehen.
Auf dem Rückweg von der U-Bahn lief Franny einer Nachbarin über den Weg und wurde in ein Gespräch verwickelt, sodass sie erst kurz vor sechs Uhr zu Hause ankam. Offenbar hatte Cara schon auf sie gewartet, denn sobald Franny im Hausgang stand, kam ihre Kleine aus der Küche gewackelt, um sie zu begrüßen. Mit ihren zwei Jahren war sie noch ein pummeliges Kleinkind und schien nur aus rosigen Wangen und riesigen grünen Augen zu bestehen. Diese Augen waren das Einzige, was sie von ihrer Mutter geerbt hatte. Selbst in diesem Alter erkannte Franny vor allem Sean in ihr wieder, und der dunkle Haarschopf auf ihrem Kopf stammte ganz eindeutig von ihrem Vater.
»Mama
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