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Die vergessene Frau

Die vergessene Frau

Titel: Die vergessene Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tara Hayland
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verpasst bekam, bevor Annie ihm ebenfalls eine ordentliche Tracht Prügel verabreichte. Danny hatte einen Tag lang nicht sitzen können, aber beide Strafen mit einer stoischen Ruhe hingenommen, die beide Frauen verblüfft hatte.
    »Es ist nicht mehr viel zu essen da«, begrüßte Annie ihre Freundin.
    Franny lächelte. »Das ist es doch nie.«
    Da seine Mutter vorübergehend abgelenkt war, nutzte Danny die Gelegenheit, rutschte ihr vom Schoß und rannte unter lautem Jubel aus dem Raum und dann aus dem Haus.
    Cara streckte ihm die Hände nach. »Da-niee! Da-niee spielen!«
    Aber Franny ließ sie nicht los. »Jetzt wird nicht gespielt. Es ist Essenszeit.«
    Annie sah ihrem ungestümen Sohn kopfschüttelnd nach. »Der Junge hat den Teufel im Leib, wahrhaftig«, bemerkte sie düster und nicht zum ersten Mal. »Ganz genau wie sein Vater.«
    Doch sie machte sich nicht die Mühe, ihrem Sohn nachzulaufen, schließlich wusste sie, dass er längst auf sich selbst aufpassen konnte. Stattdessen machte sie sich an den Abwasch, während Franny das Abendessen für Cara und sich zubereitete.
    Ein kurzer Blick in Schränke und Speisekammer ergab, dass Annie recht hatte: Es war kaum noch etwas zu essen da. Inzwischen war der Krieg seit Jahren beendet, aber die Rationierungen waren noch immer nicht aufgehoben worden. So kurz vor dem Wochenende waren Eier und Käse längst aufgegessen, und das bedeutete, dass es wieder einmal Brot mit Bratfett geben würde. Franny schnitt drei Scheiben Brot ab, bestrich sie mit Rinderfett und besprenkelte sie mit Salz. Eine Scheibe gab sie ihrer Tochter, die anderen beiden behielt sie für sich, doch als Franny sah, wie schnell Cara ihren Anteil verschlungen hatte, gab sie ihr die Hälfte von ihrem Teller ab.
    Annie bemerkte es und kommentierte kopfschüttelnd: »Du solltest das essen, Fran. Du kannst kaum noch stehen, Mädchen, und du hast eine lange Nacht vor dir.«
    Aber Franny sah lachend zu, wie sich ihre Tochter das Brot in den Mund stopfte. »Mach dir um mich keine Sorgen. Ich bekomme später im Club etwas zu essen.«
    Nachdem Cara gegessen hatte, brachte Franny sie nach oben in ihre winzige Schlafkammer und legte sie dort ins Bett. Wie immer bestand ihre Tochter darauf, eine Geschichte vorgelesen zu bekommen. Franny gab sich widerwillig geschlagen, obwohl sie wusste, dass sie sich eigentlich schon wieder auf den Weg machen sollte. Aber zum Glück war die Kleine nach dem vielen Spielen müde, und ihr fielen schon nach wenigen Seiten die Augen zu.
    Sobald ihre Tochter eingeschlafen war, ging Franny wieder nach unten, um ihre Tasche aus der Küche zu holen. Annie stand immer noch an der Spüle und wusch ab.
    »Sie schläft?«
    Es war eher eine Feststellung als eine Frage, aber Franny nickte trotzdem. »Siehst du später bitte mal nach ihr?«
    »Das weißt du doch.«
    Damit machte sich Franny auf zu ihrer zweiten Arbeitsstelle.
    Vierzig Minuten später war Franny am Piccadilly Circus angekommen. Schlagartig hob sich ihre Laune. Sie war hier zwar nur ein paar Meilen von Whitechapel entfernt, doch im West End fühlte sie sich wie in einer anderen Welt. Hier gab es überall helle Lichter und moderne Autos, und auf den breiten, sauberen Straßen flanierten elegant gekleidete Paare auf dem Weg ins Restaurant oder Theater – oder in einen Abendclub wie den Victory Club, in dem Franny arbeitete.
    Sie hatte die Stelle vor ein paar Monaten angetreten. Hier arbeitete sie nicht nur des Geldes wegen – auch wenn sie den Zusatzverdienst dringend brauchte –, sondern vor allem, weil sie damit wieder ein Ziel vor Augen hatte. Sie hatte es so satt, ihre Hände in die Toiletten fremder Menschen stecken zu müssen. Wenn sie neun Stunden lang auf den Knien den Dreck anderer Leute weggeputzt hatte, schmerzten ihr die Arme und der Rücken, und ihre Moral lag am Boden. Manchmal sah sie auf ihre aufgearbeiteten Hände – die nach zahllosen Stunden in kaltem Wasser rot und mit kleinen Rissen übersät waren, in denen nach dem Bäderputzen Ammoniak und Weinessig brannten – und fragte sich, wann ihr Leben so aus dem Gleis geraten war.
    Darum hatte sie sich als Garderobiere in einem vornehmen Abendclub im West End anstellen lassen und hoffte nun darauf, dass sich irgendwann eine Gelegenheit ergab, ihr Talent auf der Bühne unter Beweis zu stellen. Denn ihren Traum, eines Tages ein berühmter Filmstar zu werden, hatte Franny nie vergessen. Und wenn sie überhaupt irgendwo entdeckt würde, dann im Victory Club.

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