Die vergessene Frau
gespielt, aus Protest gegen die gefühllose Behandlung nichts zu essen, doch sie war so hungrig, dass sie widerwillig ihren Löffel nahm, ihn zaghaft in den Brei tunkte und eine Löffelspitze probierte. Sie hatte sich innerlich auf den üblichen wässrigen Schleim eingestellt, aber zu ihrer Überraschung schmeckte der Haferbrei hier ganz anders: cremiger, als sie in Erinnerung hatte. Sie probierte einen zweiten, größeren Löffel voll.
»Der schmeckt gut«, sagte sie. »Sonst schmeckt er nicht so gut.«
Ihre Großmutter sah nicht einmal auf. »Wahrscheinlich kennst du ihn nur mit Wasser. Der hier ist mit Milch gemacht. Hier gibt es reichlich Kühe, an Milch und Käse ist kein Mangel.«
»Ich mag ihn«, verkündete Cara.
Sie war nicht sicher, ob sie sich das nur einbildete, doch Cara meinte ihre Großmutter kurz lächeln zu sehen. Aber vielleicht hatte sie sich getäuscht, denn schon im nächsten Moment war von einem Lächeln keine Spur mehr. Stattdessen wurde ihr ein Topf Honig zugeschoben.
»Tu was davon rein, wenn du willst. Damit wird es süßer.«
Cara folgte der Aufforderung und stellte fest, dass ihre Großmutter recht hatte: Der Brei schmeckte wirklich süßer. »Danke. Das schmeckt wirklich gut.«
Aber diesmal erntete sie mit ihrer Begeisterung nur ein Grunzen. Das kurzfristige Stimmungshoch war verflogen, und den Rest der Mahlzeit verbrachten sie schweigend.
Nach dem Frühstück zeigte Theresa ihrer Enkelin die Hütte und den Garten und erklärte ihr dabei, welche Arbeiten wie getan werden mussten und welche Aufgaben Cara übernehmen würde. Bei Tageslicht konnte Cara sehen, wie nahe sie der Klippe waren. Bei ihnen im East End lebten viele Iren, doch wenn die von dem sogenannten »alten Land« gesprochen hatten, hatte sie sich stets etwas mit grünen Feldern und sanften Hügeln vorgestellt, keinen so trostlosen und verlassenen Flecken wie diesen.
Der Garten genügte zur Selbstversorgung, erklärte ihr Theresa.
»Ich gehe kaum noch in den Ort. Hier habe ich alles, was ich brauche.« Sie führte Cara durch den Gemüsegarten, in dem sie Kartoffeln, Lauch und Kohl anbaute, und zeigte ihrer faszinierten Enkelin, wie man Karotten aus der Erde gräbt.
Seitlich am Haus war eine Ziege angebunden, außerdem gab es einen Hühnerstall, aus dem sie Eier holen konnten. Theresa ließ Cara eines aus dem Nest nehmen, und das Mädchen sah sie mit großen Augen an, als sie die Wärme des frisch gelegten Eis in der Hand spürte.
Falls Theresa das alles tat, damit Cara keine Zeit hatte, sich nach ihrer Mutter zu sehnen, dann war ihr Plan aufgegangen. Die Flut neuer Eindrücke hinderte Cara daran, darüber nachzugrübeln, dass sie allein zurückgelassen worden war. Aber als der Rundgang beendet war, verkündete ihr Theresa, dass sie jetzt ins Dorf gehen würde.
»Ich gehe einmal in der Woche, um Mehl und andere Sachen zu kaufen und um zu erfahren, was es Neues in der Welt gibt. Außerdem gehe ich zur Post. Da werden die Briefe deiner Mutter ankommen, und falls es Neuigkeiten für mich gibt, werden sie dort aufbewahrt.«
Da niemand erfahren sollte, wo Cara steckte, würde sie währenddessen in der Hütte bleiben.
»Es ist eine Schande, dich allein zu lassen, wo du doch erst gestern angekommen bist. Aber ich gehe immer am gleichen Wochentag, und wenn ich heute nicht auftauche, schicken sie bestimmt jemanden her, um nach mir zu sehen. Aber keine Angst – ich gebe dir was zu tun, während ich weg bin, damit du keinen Unfug anstellst.«
Eine halbe Stunde später, kurz vor neun Uhr morgens, machte sich die alte Frau auf den Weg in den Ort, und Cara begann mit der Hausarbeit. Sie sollte das Frühstücksgeschirr abwaschen, die Betten machen und aufräumen, und danach sollte sie Gemüse fürs Abendessen ernten und vorbereiten.
Den ganzen Vormittag plagte sich Cara. Gegen Mittag hatte sie einen Bärenhunger. Es war Essenszeit, doch ihre Großmutter war noch nicht zurückgekehrt, und sie wagte nicht, sich ohne Erlaubnis etwas zu essen zu nehmen. Eine Stunde später hatte sie alle Arbeiten im Haus erledigt und ging nach draußen, um die Karotten auszugraben, die es zum Abendessen geben sollte. Sie machte es so, wie die alte Frau es ihr gezeigt hatte, allerdings war das Ernten schwieriger, als sie gedacht hatte.
Um zwei Uhr mittags war ihr schlecht vor Hunger, ihr tat der Rücken weh, ihre Finger waren rot und wund vor Kälte, und ihre Großmutter war immer noch nicht zurück. Weil sie annahm, dass ihr ein Glas Wasser
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