Die vergessene Frau
als sie sie in Erinnerung hatte. Sie sprach sogar anders .
Theresa schob sie sanft vorwärts. »Komm schon, Mädchen. Tu, was deine Mam sagt.«
Pflichtschuldig ließ Cara sich von der Frau umarmen.
»Ach, mein Engel«, murmelte ihre Mutter. »Ich habe dich so schrecklich vermisst.«
Und Cara hätte am liebsten gefragt: »Warum hast du mich dann so lang allein gelassen?«
Franny verstand nicht, was da geschah. Sie hatte sich so auf das Wiedersehen mit ihrer Tochter gefreut und dabei immer vor Augen gehabt, wie gut sie miteinander ausgekommen waren, als sie zusammen bei Annie gelebt hatten. Aber statt sich über den Besuch zu freuen, wirkte Cara in ihrer Gegenwart regelrecht eingeschüchtert; so als wären sie sich noch nie begegnet. Bevor Franny nach England geflogen war, war sie einkaufen gegangen und hatte mehrere Ausstattungen für ihr kleines Mädchen eingepackt – die sich allesamt als zu klein herausstellten. Das rief ihr schmerzhaft vor Augen, wie fremd ihre Tochter ihr geworden war.
Später am Abend, als Cara zu Bett gegangen war, trank sie etwas zu viel Brandy und gestand Theresa ihre Ängste, dass sie sich von Cara entfremdet haben könnte. Die alte Frau lächelte wissend.
»Natürlich fremdelt sie ein bisschen. Als du weggegangen bist, war sie noch ein kleines Ding. Zwei Jahre sind in diesem Alter eine Ewigkeit.« Sie beobachtete ihre Tochter aus dem Augenwinkel. »Was hast du denn erwartet – dass sich nichts verändert hat? So naiv bist du doch nicht, oder, Liebes?«
Ehrlich gesagt hatte Franny genau das erwartet. Doch als ihre Mutter es so ausdrückte, klang das albern. »Nein«, log sie. Seufzend nahm sie noch einen Schluck. »Wahrscheinlich hast du recht, und das ist ganz normal. Ich hoffe nur, dass es einfacher wird.«
Theresa sagte nichts dazu.
Nachdem sie lang geschlafen hatte, wachte Franny mit neu geschöpfter Hoffnung auf. Natürlich fremdelte Cara anfangs ein bisschen, so wie ihre Mutter es ihr erklärt hatte. Aber sie würden sich im Nu wieder aneinander gewöhnen.
Damit sie sich so wenig wie möglich verkleiden musste, ließ Franny das Frühstück in ihrem Zimmer servieren.
»Ist das nicht ein Festmahl?«, verkündete sie, als Speck, Eier und Würstchen aufgetragen wurden.
Aber Cara schien sich nicht für das Essen zu interessieren und knabberte nur an einem Toast mit Marmelade. Franny musste ihre ganze Willenskraft aufbieten, um sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr sie das ärgerte. Stattdessen sagte sie: »Hoffentlich freust du dich schon auf heute. Ich habe so viel für uns geplant.«
Vielleicht klang ihre Fröhlichkeit ein bisschen gezwungen, doch Franny versuchte das so gut wie möglich zu ignorieren.
Eine Stunde später waren sie angezogen und bereit zum Ausgehen. Cara starrte die merkwürdigen Kleider und die Perücke an, die ihre Mutter aufgesetzt hatte.
»Warum hast du die aufgesetzt?«
Franny kicherte. »Ach, die? Das ist so etwas wie ein Spiel, Schätzchen. Jetzt schau nicht so traurig. Das soll Spaß machen!«
Cara brachte nicht die Kraft auf, ihr Lächeln zu erwidern. Ihr konnte man nichts vormachen. Sie wusste genau, was hinter dieser Verkleidung steckte: Niemand sollte wissen, dass sie die Tochter dieser Frau war. Cara war nur ein schmutziges Geheimnis.
Franny war fest entschlossen, den Tag so unterhaltsam wie möglich zu gestalten. Auf ihre Bitte hin erklärte sich Theresa einverstanden, im Hotel zu bleiben, damit sie etwas Zeit mit ihrer Tochter allein verbringen konnte. Franny wollte Cara zurückerobern, alles sollte wieder so sein wie damals, als sie sich noch so nahegestanden hatten, wie es Mutter und Tochter nur möglich ist. Sie fand es schrecklich, dass sie sich so entfremdet hatten, und sie wusste, dass das ihre Schuld war – und sie es darum wieder richten musste.
Ein Programmpunkt jagte den nächsten. Weil es zu kalt zum Schwimmen war, zogen sie nur Schuhe und Strümpfe aus und wateten im kalten Meerwasser. Danach spielten sie Minigolf, stärkten sich an einer Imbissbude und spazierten anschließend über die Promenade. Franny bestand darauf, Cara eine gestreifte Zuckerstange und einen kandierten Apfel zu kaufen.
»Wie wär’s mit etwas Zuckerwatte?«, fragte sie und deutete dabei auf den Stand.
»Nein, danke. Mir ist nicht gut.«
Franny sah die unglückliche Miene ihrer Tochter und spürte vor Enttäuschung einen Stich. Der Tag verlief gar nicht so, wie sie es sich vorgestellt hatte. Sie hatte gehofft, dass ihre Tochter bei so vielen
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