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Die vergessene Frau

Die vergessene Frau

Titel: Die vergessene Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tara Hayland
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ihren elegant gleitenden Gang in einen ausgreifenden Schritt, der eher zu einer prüden älteren Jungfer passte. Als sie das Hotel verließ und in das Taxi stieg, das der Portier ihr gerufen hatte, würdigte sie niemand eines Blickes. Aufgekratzt ließ sie sich zur Victoria Station fahren, wo sie den Zug ans Meer nehmen würde. Es war, als würde sie eine Spionin spielen.
    Das Grand Hotel in Brighton war so diskret, dass sich niemand für die altjüngferliche Frau interessierte, die an diesem Nachmittag ihr Zimmer bezog. Anfangs hatte Franny geplant, die schönste Suite zu reservieren, aber dann war ihr aufgegangen, dass das keine gute Idee war – schließlich wollte sie möglichst wenig Aufmerksamkeit erregen. Darum hatte sie sich stattdessen für eine der nicht ganz so luxuriösen Familiensuiten entschieden: zwei Schlafzimmer nebeneinander mit einem gemeinsamen Bad dazwischen.
    Auf den ersten Blick gefiel ihr das Grand Hotel gut. Der respekteinflößende weiße Bau, in der viktorianischen Ära für Besucher der Oberklasse errichtet, machte einen kultivierten und würdigen Eindruck. Da es direkt an der Promenade gelegen war, hatte man einen wunderbaren Ausblick und war angenehm nah an allen Vergnügungsmöglichkeiten.
    Die Räume waren wunderschön, genau wie sie erhofft hatte. Die Schlafzimmer hatten hohe, stuckverzierte Decken, riesige, bodentiefe Fenster und einen unglaublichen Blick auf den grauen Ärmelkanal. Er wirkte vielleicht nicht so einladend wie der azurblaue kalifornische Pazifik, doch der Page hatte ihr versichert, dass man an klaren Tagen bis nach Frankreich sehen könne. Das Bad war riesig, wenn auch etwas zugig. Aber dafür konnten sie sich jederzeit am Kamin aufwärmen.
    Ihre Mutter und Cara sollten erst um fünf Uhr nachmittags eintreffen, also in etwa drei Stunden. Franny konnte es kaum erwarten, sie wiederzusehen, und musste sich bis dahin beschäftigt halten. Sie hängte alle ihre Sachen in den Schrank, bestellte dann Tee und Sandwichs und verzehrte sie an dem riesigen Fenster, während sie sich ausmalte, was sie in dieser Woche mit ihrer Tochter unternehmen würde. Danach legte sie sich schlafen.
    Eine Stunde später wurde sie von einem zaghaften Klopfen geweckt. Sie wusste sofort, wer vor der Tür stand.
    »Ich komme!«, rief sie und begutachtete sich ein letztes Mal im Spiegel. Sie hatte ihre Verkleidung abgelegt, weil sie ihrer Tochter zeigen wollte, wie reich sie geworden war. Cara sollte stolz auf sie sein.
    Dann eilte sie zur Tür und riss sie auf. Vor ihr stand eine ältere Frau, die ein kleines, dunkelhaariges Mädchen an der Hand hielt. Franny starrte ihre Tochter an und begriff erst jetzt, welche Veränderungen die letzten zwei Jahre mit sich gebracht hatten. Cara war mindestens eine Handbreit gewachsen, und sie kam ihr auch dünner vor: Sie war nur noch Haut und Knochen. Die riesigen grünen Augen schienen fast das ganze Gesicht einzunehmen, und das rußschwarze Haar stand wie ein Besen in alle Richtungen ab. Sie sah aus wie eine kleine Gassengöre. Im ersten Moment blieb Franny wie angewurzelt stehen. Ihre Tochter war groß geworden, und sie hatte das verpasst.
    Mit Tränen in den Augen ging sie in die Hocke, damit sie auf einer Höhe mit Caras Gesicht war.
    »Mein Schatz! Ich freue mich ja so, dich zu sehen«, sagte sie gefühlvoll.
    Anschließend breitete sie die Arme aus und wartete darauf, dass sich ihre Tochter hineinwarf.
    Cara rührte sich nicht vom Fleck. Die vornehme Frau schüchterte sie so ein, dass sie sich nicht mehr bewegen konnte. Das war nicht ihre Mutter. Das war eine wunderschöne Fremde, die viel zu fein war, als dass Cara sie berühren durfte. Ihre Hände waren weich und perfekt manikürt, und plötzlich schämte sich Cara ihrer schwieligen Haut und der schmutzigen, abgeknabberten Nägel. Ihre Großmutter hatte sie zu dieser Gelegenheit in ihre besten Sonntagssachen gesteckt, aber verglichen mit dieser eleganten Lady kam sie sich dreckig und verwahrlost vor. Und wenn sie das schöne blaue Kleid der Frau schmutzig machte? Wenn sie die sorgfältig gelegten Locken durcheinanderbrachte? Unsicher trat sie einen Schritt zurück.
    Die rothaarige Frau sah sie verdutzt an. »Was ist? Willst du deine alte Mam nicht umarmen?«
    Sie sagte das humorvoll, aber trotz ihrer neun Jahre hörte Cara der Lady die Enttäuschung an. Dennoch wollte sie die Frau nicht umarmen. Das war nicht ihre Mutter: Die Haare waren zu rot und zu elegant frisiert, und die Nase sah ganz anders aus,

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