Die vergessene Frau
verbunden war – seinem Vater, wie sie sich ins Gedächtnis rief. Sie schob die Hand in seine und sagte: »Gabriel und ich haben uns gerade kennengelernt.«
In diesem Moment bemerkte Franny das Mädchen, das halb hinter Max stand. Olivia, nahm sie an. Sie war genauso schön wie ihr Bruder, ebenfalls groß und schlank und hatte die gleiche feine Knochenstruktur und perfekte Porzellanhaut. Aber während Gabriel wie sein Vater dunkles Haar und dunkle Augen hatte, hatte Olivia lange blonde Haare, die ihr bis auf die Taille reichten, und dazu hellblaue Augen, die sie wahrscheinlich von ihrer Mutter Eleanor geerbt hatte.
Franny schenkte dem Mädchen ein möglichst einnehmendes Lächeln. »Hallo, Olivia. Ich freue mich so, dich endlich kennenzulernen.«
Das Mädchen starrte sie wortlos an. Franny stöhnte innerlich auf. Es würde ein langer Abend werden.
Beim Essen versuchte sie mit aller Kraft, Gabriel und Olivia in die Hochzeitsvorbereitungen einzubeziehen.
»Möchtest du vielleicht Brautjungfer werden?«, fragte sie Olivia. »Ich habe sowieso schon acht, da kommt es auf eine mehr oder weniger nicht an.«
Gabriel antwortete für seine Schwester. »Olivia hasst es, im Mittelpunkt zu stehen«, erklärte er Franny und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Du solltest lieber jemand anderen nehmen.«
»Ach so, ich verstehe.« Franny gab sich Mühe, nicht beleidigt zu klingen. »Und wie ist es mit dir?« Sie wandte sich an Gabriel. »Möchtest du vielleicht etwas vortragen?«
»Ich tue alles, was ihr von mir verlangt.« Sie hatten den Hauptgang aufgegessen, und Gabriel wandte sich an Max. »Würdest du uns beim Dessert entschuldigen, Vater?« Seine förmliche Bitte klang leicht ironisch. »Wir haben beide noch Hausaufgaben zu erledigen.«
Erst als sie gegangen waren, begriff Franny, dass Olivia während des ganzen Abendessens kein Wort gesagt hatte.
»Das lief leider nicht ganz so gut, wie ich gehofft hatte«, sagte sie, als die beiden außer Hörweite waren.
Max seufzte. »Ich weiß.« Er beugte sich über den Tisch und drückte ihre Hand. »Aber sie werden irgendwann auftauen, mein Liebling. Da bin ich ganz sicher.«
Franny war nicht so überzeugt.
Oben sah Olivia überrascht auf, als Gabriel in ihr Zimmer kam. Eigentlich waren sie nicht so vertraut, dass sie sich oft zusammen in ein Zimmer setzten und plauderten. Sie nahm an, dass er mit ihr über Franny herziehen wollte, aber stattdessen ging er direkt zum Fenster, öffnete es und schickte sich an hinauszuklettern.
»Was tust du da?«, fragte sie unsicher. Sie fand Gabriel immer ein bisschen einschüchternd – doch das ging ihr bei fast allen Menschen so.
»Wonach sieht es denn aus? Ich verschwinde.«
Natürlich; darum war er in ihr Zimmer gekommen. Es lag im ersten Stock, und gleich vor dem Fenster gab es ein Flachdach neben einer alten Eiche: perfekt geeignet, um daran hinunterzuklettern.
Er hielt einen Schlüsselbund hoch. »Ich habe vor, den Mustang aus dem Stall zu lassen und ein paar Freunde zu treffen. Willst du mitkommen?«
Das war typisch für Gabriel. Immer war er unterwegs. Er schloss schnell Freundschaften und fand überall jemanden, mit dem er seine Freizeit verbringen konnte. Olivia war, sosehr sie das auch ärgerte, das genaue Gegenteil. Sie war schüchtern und fand es schwer, sich anderen zu öffnen. Als Kinder hatten sie oft zusammen gespielt und beieinander Trost gesucht, nachdem ihr Vater sich nicht für sie interessierte. Doch seit sie Teenager geworden waren, unternahm Gabriel immer mehr alleine. Diese Einladung kam völlig unerwartet. Aber so gern Olivia auch mit ihm gekommen wäre, ihr fehlte der Mut.
»Lieber nicht«, meinte sie traurig.
Er zuckte mit den Achseln. »Selbst schuld.« Er war schon halb aus dem Fenster geklettert, als er sich noch einmal umdrehte. »Ach ja, und lass das Fenster einen Spalt offen, wenn du schlafen gehst.«
»Warum?«
»Damit ich wieder reinklettern kann, Dummerchen.«
Damit war er verschwunden und ließ Olivia allein zurück. Daran war sie gewöhnt. In der Schule war sie als Einzelgängerin bekannt. Sie tat so, als sei sie sich selbst genug, aber insgeheim wünschte sie sich oft, sie wäre wie ihr kontaktfreudiger Bruder – oder wie die Verlobte ihres Vaters, die Filmschauspielerin Frances Fitzgerald. Sie war so schön, so selbstbewusst, so elegant – alles, was Olivia nicht war.
Mit einem tiefen Seufzen trat das Mädchen an seine Kommode und zog die oberste Schublade auf. Hier bewahrte es,
Weitere Kostenlose Bücher