Die vergessene Frau
fünfstündige Fahrt über den Highway 1 entlang der Küste entführte Franny in eine andere Welt: Hier war das Land rau und ungezähmt, über hundert Meilen zogen sich die zerklüfteten Klippen, felsigen Buchten und die donnernde Brandung hin. Größere Ortschaften gab es hier nicht. Als Franny das hörte, war sie nicht mehr sicher, ob sie dort leben wollte. Dafür würde sich die Burg bestimmt als Zweitwohnsitz eignen – als Rückzugsort, an dem sie ab und zu ein Wochenende verbringen konnten.
Auf der langen Fahrt schilderte Max seiner Frau die Geschichte von Stanhope Castle. Er hatte im Jahr 1938 knapp zehntausend Hektar Land erstanden und den Bau ein Jahr lang vorbereitet, gemeinsam mit der Architektin Julia Morgan, die in Paris studiert und für William Hearst das Hearst Castle in San Simeon ein Stück weiter südlich an der Küste erbaut hatte. Genau wie Letzteres hatte sie Stanhope Castle in einem mittelalterlich anmutenden gotischen Stil entworfen, erzählte Max. Für Franny sah es mit seinen verwitterten, grauen Steintürmchen und den Wasserspeiern aus wie eine riesige Kathedrale, und es erinnerte sie an die Bilder, die sie von Notre Dame in Paris gesehen hatte.
Stanhope Castle war offenkundig Max’ ganzer Stolz. Mit kindlicher Begeisterung beschrieb er Franny die Anlage in allen Einzelheiten. Während sie die gewundene Straße zum Haupthaus hinauffuhren, erklärte er ihr, dass der Weg bei Flut manchmal unter Wasser stand.
Franny war gleichzeitig fasziniert und entsetzt. »Da ist man ja völlig von der Welt abgeschnitten.«
Er lächelte sie kurz an. »Genau darum mag ich es so gern.«
»Aber macht dir das keine Angst?«, bohrte sie nach. »Dass du hier draußen gestrandet sein könntest?«
»Manchmal steigt die Flut zwar über den Weg, aber irgendwann kommt die Ebbe. Man muss nur abwarten.«
Franny fand, dass das ziemlich trocken klang, doch sie beschloss, ihren Gedanken für sich zu behalten.
Als sie das Schloss erreichten, war es bereits Mitternacht. Das Personal war vorab über ihre Ankunft informiert worden, darum brannten Lichter hinter den langen, schmalen Fenstern. Flackernde Fackeln erleuchteten die lange Auffahrt zum Haupthaus. Weil es so spät war, würden sie die Burg nicht mehr erkunden – »Das holen wir morgen nach«, versprach Max. Aber der Anblick des Haupthauses genügte, damit Franny sich vorstellen konnte, wie riesig das ganze Anwesen sein musste.
In der Eingangshalle wurden sie von Max’ Haushälterin empfangen, einer gertendünnen, schmalgesichtigen alten Jungfer namens Hilda, die ein bisschen wie einer der Wasserspeier oben an den Wehrtürmen aussah. Sie war um die vierzig, wirkte allerdings älter – ihr hochgeschlossenes graues Wollkleid schmeichelte ihr nicht gerade. Sie begrüßte Franny förmlich und steif.
»Willkommen in Ihrem neuen Heim, Mrs Stanhope.« Sie neigte leicht den Kopf. »Ich hoffe, Sie werden hier sehr glücklich.«
Franny murmelte einen Dank. Sie fand ihre neue Behausung eher einschüchternd. Zum Glück mischte Max sich ein. Er nahm ihre Hand und sagte: »Ich glaube, wir hätten jetzt gern etwas zu trinken, nicht wahr, Schatz?« Sie nickte dankbar.
Während Max sie durch das Schloss führte, stellte Franny fest, dass jedes der riesigen, hohen Zimmer nur Steinwände und -böden hatte, wodurch die Räume, selbst im Sommer, immer ein wenig zu kühl blieben. Die Einrichtung war prunkvoll, überall gab es Wandteppiche und dicke Tierfelle als Bodenbelag; die Möbel waren dementsprechend, fein geschnitztes dunkles Holz, gekrönt von goldenen Kandelabern.
Hilda folgte dem Paar in einen Empfangsraum und schenkte beiden ein Glas Brandy ein. Franny nahm es dankbar entgegen. Die übrigen Angestellten warteten unten auf Anweisungen, eröffnete ihnen die Haushälterin. Sie selbst sei gern auf jede erdenkliche Weise behilflich.
»Ich habe angenommen, dass Sie nach der langen Fahrt etwas essen möchten«, sagte sie. »Der Koch bereitet eben eine Ente vor.«
Franny wurde es schwer ums Herz. So wie es aussah, würden sie das miesepetrige Gesicht der Frau noch mindestens eine Stunde ertragen müssen. Offenbar ahnte Max, was sie empfand.
»Danke, aber wir brauchen kein Abendessen«, sagte er, den Blick fest auf seine Braut gerichtet. »Ich wäre jetzt gern mit meiner Frau allein. Schließlich ist das guter Brauch in der Hochzeitsnacht, soweit ich weiß.«
Hilda errötete auf diese Andeutung hin und senkte den Blick. »Ja, natürlich. Ich verstehe. Dann wünsche
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