Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen
sie. »Und ich musste dauernd heulen, konnte überhaupt nicht aufhören.«
Nein, als depressiv habe sie sich nicht empfunden . . . Ein Hustenanfall unterbricht sie, dann nimmt sie den Faden wieder auf. Sie sei einfach nur wahnsinnig traurig gewesen. »Und weil ichdachte, es kann mir sowieso niemand helfen«, fährt sie fort, »habe ich angefangen, Träume aufzuschreiben, hab mir auch Musik zusammengestellt, die mein Trauern unterstützte. Das hat mich dann insgesamt erleichtert, aber das Leben blieb schwer.«
Die entscheidende Nachricht traf sie wie eine Keule. Ihre Verbeamtung wurde abgelehnt. Die amtsärztliche Untersuchung hatte eine erhebliche Herzschwäche und einen schweren irreparablen Nierenschaden ergeben. Damit blieb der Staatsdienst für sie verschlossen. Eine ihrer Nieren war so stark zernarbt und geschrumpft, dass als Ursache nur eine sehr lange zurückliegende verschleppte Entzündung infrage kam. »Es stimmt, ich hatte diese Rückenschmerzen während der Flucht«, erzählt Ruth, »und kurz darauf dann Scharlach, welches Kind hatte das nicht? Aber es war einfach keine große Sache. Zeit zum Auskurieren? Wie denn? Und warum auch? Wir waren ja so erzogen: zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl – dann tut eben der Rücken weh, na und . . . ?« Wieder befällt sie der Husten, er hört sich noch aggressiver an als vorher. Ruth trinkt ein Glas Wasser, dann sagt sie entschieden: »Wenn ich Fieber gehabt hätte, dann wäre ich auf der Strecke geblieben, dann hätte ich nicht weiterfahren können.« – Seit damals, seit der Flucht habe ihr Körper die Prägung, dass kein Fieber entsteht. Das sei bis heute so. »Ich hatte kürzlich wieder eine Nierenbeckenentzündung, aber kein Fieber.«
Eine minimale Rente
Der Krieg, sagt sie, habe sie körperlich und seelisch beschädigt, und dies habe wie beim Dominospiel eine Kette negativer Folgen ausgelöst: dass ihr die Vorteile eines Beamtenlebens vorenthalten wurden, dass sie noch dünnhäutiger wurde, dass sie den Krach an der Schule nicht mehr aushielt, dass sie mit fünfzig Jahren auf schlecht bezahlte Volkshochschulkurse umstieg, dass sie heute eine minimale Rente bezieht, dass sie sich seit sechs Jahren keinen Urlaub leisten kann. Und auch, dass im Umgang mit ihrenbeiden Kindern ein wesentlicher Teil ausgespart blieb. Sie habe sich nicht getraut, ihnen mit dem Thema Krieg zu kommen, und von sich aus hätten die Kinder auch nicht gefragt.
Dann kommt Ruth auf ein weiteres Defizit zu sprechen. Es ist ihr problematischer Umgang mit Männern. »Ein unbeschwerter Zugang zu ihnen ist mir bis heute versagt geblieben«, sagt sie. »Da gibt es nach wie vor eine ungeklärte, unsichtbare Sperre.«
Ruth Münchow steht mit diesem Problem nicht allein. Fast alle Frauen, mit denen ich über die Auswirkungen ihrer Kriegskindheit sprach, lebten als Single. Selten erzählten sie von dauerhaften guten Partnerschaften. »Der Grund liegt vor allem darin, dass sie ihre Pubertät übersprungen haben«, sagte dazu die Nervenärztin und Psychotherapeutin Helga Spranger aus Strande in Schleswig-Holstein, die ich 2002 für eine WDR-Sendung interviewte.
Helga Spranger, fast im gleichen Alter wie Ruth Münchow, belegte ihre Aussage mit eigenen Erfahrungen. »Ich hab recht lange Jahre im Lager verbracht, und ich hab meine Pubertät im Lager erlebt. Es gab selbstverständlich nichts anzuziehen, was man sich eigentlich in der Pubertät wünscht: dass man sich schön macht, dass man sich mit Düften umgibt oder zum Friseur geht oder sich schminkt – das war ausgeschlossen«, erinnerte sie sich. »Es ging darum, beim Bauern zu arbeiten und zu helfen, die Familie zu ernähren, wie die Mutter auch, und gleichzeitig die Schulausbildung zu machen, um aus dieser Misere ganz schnell herauszukommen. Und da schweigen alle Geigen, da passiert gar nichts! Also Freund oder Ähnliches war vollkommen uninteressant – ich bin da nicht allein gewesen, da waren auch andere Mädchen –, wir waren einfach zu hässlich und zu schlecht angezogen, und wir kamen aus dem Lager.«
Was bedeutet das, keine Pubertät? Was genau fehlt?
»Das ist so«, erklärte Spranger, »als wenn ein Vogel nie gelernt hätte zu fliegen. Er kann sich nicht in die Lüfte erheben, er kann – ich denke jetzt gerade an Kiebitze, die ja so unglaublich schön kullern können, in der Luft, trudeln und kullern, und sie fangen sichwieder auf, und das haben wir nicht gekonnt.« Die Ersatzstrukturen – so die Psychotherapeutin – seien
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