Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen
läuft mit einer Baseballmütze herum.
Vor zehn Jahren geschah es, dass er sich heftig verliebte, was die Scheidung zur Folge hatte. Sie sei längst überfällig gewesen, sagt Kurt, aber er habe sich vorher nicht dazu durchringen können: Man lässt doch den anderen nicht im Stich, auch dann nicht, wenn es sich um eine Vernunftehe ohne wirkliche Gemeinsamkeit, ohne Tiefe handelt. »Ich war immer wie – ja, ich sag oft –, wie besinnungslos«, stellt Kurt im Nachhinein fest. »Ich hab wie besinnungslos geheiratet, Kinder bekommen, und im Grunde war ich das überhaupt nicht.«
Und wie ist es mit seinen Kindern? Hat er Spuren seiner eigenen schwierigen Vergangenheit im Verhalten seiner Kinder entdeckt? »Allerdings«, bestätigt er. »Es ist ihre Art, Konflikte zu vermeiden – angepasst, nett und lieb und ordentlich zu sein, genauso wie ich erzogen worden bin: Sei ein lieber Junge, ja, das habe ich den Kindern vorgelebt.«
Zum Beispiel habe er die Auseinandersetzungen mit seiner Frau erst geführt, als die Kinder schon erwachsen waren. »Aber zum Glück haben die jetzt die Kurve gekriegt.«
Inzwischen ist er, was sein Kindheitstrauma angeht, an einem neuen Punkt angelangt: »Das ständige Reden darüber hilft nicht«, stellt er fest. »Man muss sich seinen Gefühlen stellen. Denn ich glaube, dass Menschen diese unverdauten Sachen ab einem bestimmten Alter körperlich ausfechten müssen.« Dies, sagt er, könne er bei seinen Altersgenossen gut beobachten, von denen viele keine Freude mehr am Leben hätten. Auch er selbst müsse wachsam bleiben.
In jüngster Zeit sind bei ihm Magenprobleme aufgetaucht. Der Arzt hat daraufhin Säureblocker verordnet. Aber für Kurt lautet die Botschaft seines Körpers: Hier ist noch Unverdautes, das musst du dir angucken.
Dann hatte er dreimal hintereinander den gleichen Traum: »Ich werfe eine Handgranate weg und laufe davon. Und während ich weglaufe, merke ich, dass ich in der Wohnung meiner Kindheit bin, und die Handgranate läuft mit einem sirrenden Geräusch in Kopfhöhe hinter mir her, holt mich aber nicht ein. Und ich lauf durch die Wohnung und versteck mich hinter dem Kleiderschrank meiner Eltern, und ich warte auf die Explosion, und sie explodiert in meinem Magen – das ist der Moment, in dem ich immer wach werde. Ich merke, wie das Blut in meinem Magen rauscht, und meine Beine sind wie gelähmt, und das ist ein ganz altes Gefühl in mir: dieses Weglaufen-Wollen und Nichtkönnen.«
Der Traum enthält für ihn eine deutliche Warnung und die Aufforderung: Stress abbauen! Kurt Schelling hat die Konsequenzen gezogen und einen Vorruhevertrag unterschrieben.
SECHSTES KAPITEL
Ein ganzes Volk in Bewegung
Die verlorene Heimat als Fixpunkt
Über Flucht und Vertreibung wurden unzählige Romane und Sachbücher geschrieben. Auch ist die Gruppe der Vertriebenen – im Unterschied zu den Bombenopfern – recht gründlich bis zu Beginn der Siebzigerjahre erforscht worden. Bei den meisten Überlebenden blieb die verlorene Heimat der Fixpunkt ihres Daseins. Dass als Folge von Hitlers Vernichtungskrieg im Osten etwa 14 Millionen Menschen ihre Heimat verloren hatten und davon womöglich 2 Millionen ihr Leben – andere Schätzungen gehen von 200 000 aus –, dies alles wurde also keineswegs verschwiegen.
Weniger wurde über die Tatsache gesprochen, dass das größte Leid hätte vermieden werden können, wenn die Deutschen nicht von ihren eigenen Leuten daran gehindert worden wären, rechtzeitig zu fliehen – und aus einem weiteren Grund: An ihn erinnerte Antony Beevor, hochgelobter britischer Autor der Sachbücher »Stalingrad« und »Berlin 1945. Das Ende«, als er in einem Beitrag in der »Welt« schrieb: »Die Geschichte der letzten sechs Monate des Zweiten Weltkrieges, kulminierend in dem furchtbaren Angriff der Roten Armee auf Berlin, ist zugleich die Geschichte einer wachsenden Zahl von Soldaten und Zivilisten in der Falle eines von den Nazis geschaffenen Alptraums. Hitlers Weigerung zum Rückzug bedeutete eben auch, daß deutsche Frauen und Kinder dem russischen Vormarsch einfach überantwortet wurden.«
Das Thema Vertreibung bekam in Deutschland den Stempel einer Interessenpolitik, weil zwar nicht alle, aber in jedem Fall die lautesten Funktionäre der Vertriebenenverbände auf die Rückgabe der deutschen Ostgebiete pochten. Aus der Vertreibungskatastrophe wurde ein Politikum, das alle kollektiven Gefühle von Verlust und Trauer, aber auch von Mitgefühl aufzusaugenschien.
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