Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen
gehört. Natürlich war es schon gar nicht möglich, wegzugehen, auszuziehen, ein eigenes Leben zu führen. Jede weitere Station im Leben mußte so geregelt werden, daß die Mutter nicht vernachlässigt oder gar verlassen wurde.«
Bärbel Beutner macht der älteren Generation keine Vorwürfe, sie spricht nicht von Schuld, aber sie ist auch frei von Selbstvorwürfen, weil sie erkannt hat, dass auch ihr Leben unverkennbar von der Vertreibung geprägt wurde.
Loyalität gegenüber den Eltern ist im Prinzip etwas Gutes; nur war es offenbar für viele Kinder aus Flüchtlingsfamilien schwer zu unterscheiden, wann ein liebevolles Unterstützen der Mutter unbedingt nötig war und wann so viel Rücksichtnahme ein eigenes Leben verhinderte. Jahrzehnte hatte die erwachsene Tochter Bärbel der Mutter zuliebe in ihrer westfälischen Kleinstadt verbracht, obwohl das Gefühl blieb, dass dies die »richtige Heimat« nicht sein konnte. Die alte Heimat, die der Eltern, sei auch in ihr mächtiger gewesen, sagt sie. Das Leben in Westdeutschland habe etwas Vorläufiges, Zufälliges behalten. »Die Wirklichkeit des Lebens hier blieb fragwürdig, wenn man sich auch völlig hineinfand. Das Bewußtsein blieb merkwürdig gespalten.«
Halb Deutschland unterwegs
Die Flüchtlinge und Vertriebenen gehören zu den vielen Millionen Deutschen, die während der Nazizeit und danach von den Wogen der Kriegsauswirkungen durchs Land getrieben wurden. Wie sah ihre Situation im Frühsommer 1945 aus? Längst nicht alle Schlesier, Pommern, Ostpreußen und Sudetendeutsche hatten bis zu diesem Zeitpunkt so etwas wie eine provisorische Bleibe gefunden. Eine unbekannte, aber in jedem Fall große Zahl versuchte noch, bei Verwandten oder Bekannten unterzukommen. Andere wanderten umher, verarmt, zerlumpt, von irgendwelchen Zufälligkeiten hierhin und dorthin geweht, oder sie wurden von den Besatzern zwischen den Zonen hin und her geschoben. Diese letzte Odyssee muss viele Flüchtlinge an den Rand der Verzweiflung gebracht haben, denn das Grauen, das hinter ihnen lag, war noch frisch.
»Deutschland – ein Ameisenhaufen«, so beschreibt die Historikerin Margarete Dörr die Lage in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Sie geht davon aus, dass damals jeder zweite Deutsche unterwegs war; und es zogen mehr Frauen umher als Männer. Drei Bände umfasst Dörrs Veröffentlichung mit dem Titel »Wer die Zeit nicht miterlebt hat . . .«, worin sie die »Frauenerfahrungen im Zweiten Weltkrieg und in den Jahren danach« in der Art eines Riesenpuzzles zusammenfügte. Wer wirklich wissen möchte, wie es den Frauen ging und wie unterschiedlich ihre Schicksale waren, kommt an Dörrs Arbeit nicht vorbei. Von ihr wird man kein Wort der Heroisierung hören, zum Beispiel in Bezug auf die sogenannten Trümmerfrauen, aber auch kein Klagelied.
»Bis zum Schluß«, schreibt sie, »schlugen sich Arbeiterinnen und Angestellte unter unsäglichen Strapazen zu ihren Dienststellen durch, machten frag- und klaglos Überstunden, pflanzten Bäuerinnen im Morgengrauen Kartoffeln, bevor die Tiefflieger kamen, versuchten Lehrerinnen den Unterrichtsbetrieb aufrechtzuerhalten. Sie taten es nicht allein unter Zwang, sondern aus einem heute kaum noch nachvollziehbaren Pflichtbewußtseinund aus purem Überlebenswillen.« Die Historikerin nennt auch den Preis für die ungeheuren Leistungen: »Frauen und Mütter waren eigentlich nie ausgeschlafen; je länger der Krieg dauerte, desto weniger. Viele waren ausgepowert und erschöpft und rappelten sich dennoch immer wieder von neuem auf.«
In Deutschland unterwegs waren zur Stunde null neben den Heimatlosen auch sehr viele evakuierte Frauen und Kinder, die in ländlichen Regionen, auch in östlichen Gebieten Zuflucht vor den Bomben gesucht hatten. Nun wollten sie in ihre Heimatstädte zurück. Es wird geschätzt, dass 5 bis 10 Millionen Menschen während des Krieges an Evakuierungen teilnahmen, deren Dauer allerdings sehr unterschiedlich war, von wenigen Wochen bis zu zwei Jahren.
Ahnungslose Dorfbevölkerung
In seiner Romantrilogie »Das Haus auf meinen Schultern« hat Dieter Forte ausführlich darüber geschrieben. Als Kind war er häufig aus Düsseldorf evakuiert worden, hatte erlebt, dass seine Mutter in der Fremde als »Bombenweib« begrüßt wurde. Jedesmal war es so, dass Mutter und Sohn schon nach kurzer Zeit beschlossen, in ihre Heimatstadt zurückzukehren, dass sie der kriegsfreien Idylle entflohen, weil sie das ahnungslose dörfliche Klima einfach
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