Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen
nicht aushielten.
Natürlich gab es auch hier Sirenen, die gelegentlich aufjaulten. Das wurde eine Übung genannt, und die Menschen gingen weiter, als wäre nichts geschehen. Sie gingen oft ganz besonders langsam, um zu beweisen, daß sie sich durch eine Sirene nicht erschrecken ließen. Der Junge, der sofort in den nächsten Keller rannte, wurde ausgelacht, und in den kleinen Lebensmittelläden wurde den Frauen gesagt, die Städter hätten überhaupt keine Nerven. Sie schnitten mit einem breiten Messer ihre Butterrollen durchund meinten, sie täten sich vor nichts fürchten, sie könne man nicht erschrecken, seine Ruhe dürfe man sich nicht nehmen lassen.
Hier war seit hundert Jahren nichts passiert, einmal war eine Kuh aus dem Schlachthof weggelaufen, das Tagblatt erinnerte jedes Jahr daran, und der Junge, der an jedem Vormittag vor dem vergitterten Aushang des Tagblatts stand, um die Meldungen zu lesen, fand nie eine Meldung über die Bombardierungen im Reichsgebiet.
Zu den Evakuierten und Flüchtlingen, die sich bei Kriegsende auf Deutschlands Straßen und Schienen befanden, gesellten sich Schülerinnen und Schüler, die durch die Kinderlandverschickung irgendwo in der Ferne, teilweise an den Rändern des Deutschen Reiches, abgesetzt worden waren. Etwa 2 Millionen, die meisten schon im jugendlichen Alter, hatten an diesen Maßnahmen teilgenommen. Nun sahen sie sich teilweise von ihren Lehrern – »Der Russe kommt!« – im Stich gelassen und mussten sich allein durchschlagen. Auf jeden Fall kann man vermuten, dass es reichlich Erfahrung mit dem Massentransport unter erschwerten Bedingungen gab, so wie sie Dieter Forte bei einer Evakuierung beschrieb:
Der Zug fuhr durch Deutschland, fuhr viele Tage und Nächte, er kroch langsam durch abgedunkelte Städte, stand wartend vor brennenden Fabriken, zog an Feldern vorbei, auf denen Gefangene arbeiteten, bewacht von Soldaten, überquerte im Schrittempo die Flüsse auf Behelfsbrücken, neben denen Flakbatterien lagen, tauchte in dunkle, nasse Wälder ein, blieb stundenlang auf freier Strecke in einer unbekannten Gegend stehen. Oft mußten sie dann aus dem Zug springen und sich auf den Bahndamm legen, Flugzeuge brausten über sie hinweg, dann krochen sie wieder auf allen vieren in den Zug, fuhren weiter, fuhren endlos weiter, ohne zu wissen, wohin.
Die Frauen in diesem Zug erzählten sich ihre Geschichten, Geschichten von gefallenen Söhnen, vermißten Ehemännern, verlorenen Eltern, Todesgeschichten aus allen Erdteilen, Geschichten vom Land, vom Himmel und vom Meer, von ausgebrannten Panzern, abgeschossenen Flugzeugen und verschollenen U-Booten, Geschichten von zerstörten Häusern und Wohnungen und den auf ewig verlorenen Dingen, an denen ihr Herz einmal hing, von denen die herumgezeigten Fotos nur noch ein blasses Abbild der Erinnerung waren.
Nach Kriegsende war »Reisen« eigentlich nicht mehr der richtige Begriff für die Art und Weise, wie Menschen weite Strecken überwanden. Mal konnten sie ein paar Kilometer fahren, dann wieder gingen sie zu Fuß. Manchmal brachte sie ein Traktor oder ein alliiertes Militärfahrzeug oder ein Ochsengespann ein paar Kilometer weiter. Oder sie belagerten tagelang einen Bahnhof in der Hoffnung auf einen Transport in überfüllten Viehwaggons. Viele Menschen, die als Kinder während endloser Zugfahrten stehen mussten, von den Erwachsenen eingeklemmt, denen sie vielleicht gerade eben bis zur Körpermitte reichten, überfällt heute noch ein heftiges Ekelgefühl, wenn sie sich nur an den Gestank erinnern.
Häufig taten sich Frauen, Kinder und Alte zu wandernden Großgruppen zusammen, zogen abwechselnd ihre Habe auf Leiterwagen hinter sich her, über viele Hundert Kilometer. Kaum jemand spricht heute mehr von den wunden Füßen in kaputten Schuhen und von dem Segen, den es bedeutete, wenn ein Großvater mitmarschierte, der Schuhe flicken konnte.
Margarete Dörr erinnert zudem an die vielen Frauen und Mädchen, die sich bei Kriegsende fern von daheim im Arbeitsdienst, im Osteinsatz, bei der Wehrmacht oder in einem anderen Kriegshilfsdienst befanden; auch sie wollten nach Hause. Zudem hätten Frauen häufig versucht, ihre verwundeten Männer oder Söhne in Lazaretten oder in Lagern zu besuchen.
Der größte Wunsch, so Dörr, habe darin bestanden, sich nach den Wirren der Kriegszeit in der Familie wiederzufinden, wieder zusammenzukommen, um gemeinsam ein neues Leben zu beginnen. Aber dieser Weg führte durch Entbehrung, Hunger,
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