Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen
extrem unhygienische Verhältnisse und damit durch Seuchengefahren.
Harte Verteilungskämpfe
In den Massenunterkünften bestanden die sanitären Anlagen häufig nur aus einem einzigen Waschbecken. Kein Wunder, dass die Menschen, ganz gleich, wie entkräftet sie waren, nur einen Gedanken hatten: Fort, schnell fort! Eine Transportmöglichkeit galt als Lottogewinn. Dementsprechend waren die Verteilungskämpfe, an denen sich kurz nach Kriegsende auch sehr viele freigelassene Kriegsgefangene beteiligten.
Aber nicht nur die Deutschen wollten so schnell wie möglich heim, weshalb sich das Land in einen Ameisenhaufen verwandelt hatte. Dörr schreibt auch von den »etwa zehn Millionen Displaced Persons, die ausländischen Zwangsarbeiter und Kriegsgefangenen, die wieder repatriiert werden sollten«.
Es gab die Langreisenden und die Kurzreisenden; aber auch die Letzteren mussten mit abenteuerlichen Fahrten rechnen. Wenn zum Beispiel Kölner zu Hamsterfahrten nach Gießen oder ins Oldenburger-Land aufbrachen, weil es dort Butter gab, waren sie womöglich erst drei Tage später zurück. »Hamstern«, was für ein freundliches Wort für Chaos und Strapaze . . . Und das Hamstern hielt noch lange an. Im Mai 1947 war das Thema immer noch aktuell, weshalb sich die »Die Neue Zeitung« in München veranlasst sah, einen Beitrag des Schriftstellers Erich Kästner zu drucken:
In Brandenburg an der Havel hielt ein Personenzug, den nur Brueghel hätte malen können. Doch zu seiner Zeit gab es keine überfüllten Eisenbahnen, und heute gibt’s keinenBrueghel. Es ist nicht immer alles beisammen . . . Die Trittbretter, die Puffer und die an den Waggons entlangführenden Laufstege waren mit traurigen Gestalten besät, und oben auf den Wagendächern hockten, dicht aneinandergepreßt, nicht weniger Fahrgäste als unten in den Coupés. Von dem Zug, den wir sahen, war nichts zu sehen – er war mit Menschen paniert!
Sie saßen, hingen, standen, klammerten sich an, blinzelten apathisch in die Nachmittagssonne, dachten nicht an Kurven und Tunnels, sondern nur an ihre Rucksäcke mit den paar Pfunden gehamsterter Kartoffeln und an die Gesichter daheim. War’s nicht früher einmal verboten gewesen, sich während der Fahrt aus dem Fenster zu beugen? Und jetzt kauerten alte Frauen und magere Kinder zu Hunderten, ohne Halt und Lehne, auf den rußverschmierten Dächern wie auf einstöckigen, geländerlosen Omnibussen. Nun war es niemandem mehr untersagt, sich das Genick zu brechen.
Eine couragierte Zwölfjährige
Und dennoch: Wer damals mit jugendlicher Kraft und Unternehmungslust ausgestattet war, für den mögen die Hamsterfahrten auch ihre schönen Seiten gehabt haben. Ursula Henke* aus Essen war zwölf Jahre, als sie regelmäßig allein ins Sauerland fuhr, um ihre Mutter, ihren kleinen Bruder und sich selbst mit Lebensmitteln und Tauschware zu versorgen. Schon früh zeigte sich bei Ursula ein Geschäftssinn, der sie bis heute nicht verlassen hat.
Da ihre Familie dreimal ausgebombt war und nichts mehr besaß, was sie bei den Bauern hätte eintauschen können, kaufte sie in Essen auf Pump eine große Zahl Kartoffelmesserchen und machte damit im Sauerland gute Geschäfte. Während sie von Hof zu Hof zog, füllte sich ihre riesige Einkaufstausche mit Kartoffeln,Eiern und manchmal auch Speck. Schwer beladen kehrte sie zur Bahnstrecke zurück, und da sie sich mit dem Lokomotivführer angefreundet hatte, der sich gegenüber dem blonden couragierten Mädchen gern hilfsbereit zeigte, wurde ihre pralle Tasche während der Fahrt vorn in der Lokomotive verstaut, sodass ihr kostbares Erhamstertes nicht unterwegs geklaut wurde. Ursula verdiente gut mit ihrer Geschäftsidee, den Kartoffelmesserchen.
Bei ihr, die 1933 geboren wurde, entdeckte ich wieder jene Überlebenskraft, mit der offenbar viele Kinder in schweren Zeiten ausgestattet waren, wenn drei Voraussetzungen zutrafen: Erstens, sie waren körperlich gesund; zweitens, sie hatten, bevor die Katastrophe über sie hereinbrach, noch einige unbeschwerte Kinderjahre ansammeln können, und drittens, sie besaßen liebevolle Eltern.
»Schreckliches – aber auch viel Schönes«
Ursulas Bruder Klaus, vier Jahre jünger, scheint, wie nun bei der Behandlung in einer psychosomatischen Klinik deutlich wurde, weit mehr unter den Kriegsumständen gelitten zu haben, obwohl oder weil die Umstände seiner Kindheit ihn bis dahin nie beschäftigt hatten. Im Unterschied dazu waren bei seiner Schwester zeit ihres Lebens
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