Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen
Es gab keine wirkliche Solidarität mit den Flüchtlingen. Der Lastenausgleich wurde zwar von der ganzen Bevölkerung finanziert, aber er löste bei den Westdeutschen eher Neid aus; in der Regel gönnte man es den Flüchtlingen nicht, dass sie für erlittene Verluste in einem gewissen Umfang entschädigt wurden.
Interessant ist, dass selbst in den betroffenen Familien detailliertes Wissen über das, was Eltern und Großeltern widerfahren war, vielfach zurückgehalten wurde. Man kann sagen: Bei den jüngeren Deutschen ist über das millionenfache Vertriebenenschicksal wenig bekannt. Die heute vierzigjährigen Kinder der ehemaligen Flüchtlingskinder haben häufig keine genaue Vorstellung davon, wie viel Zeit damals vergangen sein mochte zwischen dem Verlassen der Heimat und dem Ankommen irgendwo in Sachsen, Bayern oder Norddeutschland. Wochen? Monate? Womöglich länger?
Die Flucht und der von vielen Umwegen, Rückwärtsschleifen oder Stockungen beeinträchtigte Fluchtweg sind weitgehend blinde Flecken im Familiengedächtnis: entweder weil die zweite und dritte Generation sich nicht sonderlich daran interessiert zeigte oder weil die Älteren die Jungen nicht mit ihren schweren Erinnerungen belasten wollten, oder weil über bestimmte traumatische Erfahrungen nicht gesprochen werden konnte. Das gilt vor allem für viele Hunderttausend vergewaltigte Frauen, von denen bekannt ist, dass nur wenige, wenn überhaupt, im Alter ihr Schweigen brachen.
Auf der Flucht geboren
Über das Schicksal der Kinder auf der Flucht weiß man wenig. In den Achtzigerjahren gab die Historikerin Bärbel Beutner ein kleines Buch mit dem Titel »Auf der Flucht geboren« heraus. Die hier gesammelten Erfahrungsberichte vermitteln wie im Brennglas die äußerst bedrohte Situation von Frauen und Kindern. »Dawurde ein vergessenes Fläschchen zur Katastrophe«, schreibt Beutner im Vorwort.
Da liest man von einer Frau, dass ihr nach der Niederkunft, weil sie sofort weiterziehen musste, nicht einmal Zeit blieb, ihr Kind zu waschen – das geschah dann erst sieben Tage später. Auf einem Frachtschiff kam ein Mädchen mithilfe zweier Tierärzte zur Welt; bei einem Bombenangriff flogen Fenster und Tür auf das Bett einer Wöchnerin mit ihrem Neugeborenen. Und es gibt die Geschichte einer Mutter, die versuchte, ihr Kind mit Brennnesselsaft am Leben zur erhalten, vergeblich; eine andere trug ihren erfrorenen Säugling noch tagelang mit sich herum.
Bemerkenswert ist das Buch auch deshalb, weil die Herausgeberin sich auch über die Folgen Gedanken machte: Da jedes überlebende »Fluchtkind« so etwas wie ein Wunder darstellte, erhielt es in seinem späteren Leben einen Sonderplatz in der Familie – aber auch aus anderen Gründen: »Ich bin als ›Fluchtkind‹ aufgewachsen und habe doch nie selbst fliehen müssen«, sagt Beutner über ihre eigene Herkunft. »An meinem Geburtstag wiederholte sich Jahr für Jahr der Fluchtweg: ›Heute vor soundsoviel Jahren sind wir los . . . Dann kamen wir da und dort an . . . So lange ist es nun schon her! . . . An unserem Fluchtkind können wir sehen, wie lange wir schon von zu Hause weg sind . . .‹«
Dass gerade in Flüchtlingsfamilien die Kinder zu Anpassung und Leistung angehalten wurden, ist bekannt. »Rücksicht verstand sich von selbst, ständiges Bemühen, Fehler zu vermeiden, Störungen zu vermeiden, Erwartungen zu erfüllen«, schreibt Beutner. »Das Schlimmste, was passieren konnte: Enttäuschungen verursachen. Und darüber hinaus gab es noch Schlimmeres: Schande herbeiführen, Ehrenrühriges verschulden, sei es durch schlechtes Benehmen oder durch schlechte Leistungen, denn wir hatten doch nur noch den guten Namen, alles andere war doch verloren.«
Der Mutter immer dankbar sein ...
Angesichts der Verluste der Eltern war für die heranwachsenden Kinder Lebensfreude nicht unbedingt etwas Selbstverständliches, was Beutner zu der rhetorischen Frage veranlasst: »Wie konnte man sich unbeschwert vergnügen, wo diese doch den Krieg erlebt hatten?« Die Rolle, die man dem »Fluchtkind« auferlegte, war womöglich noch einschränkender als die seiner älteren Geschwister: Es hatte seiner Mutter, die Übermenschliches für ihr Kind getan hatte, in Dankbarkeit verpflichtet zu bleiben – auch wenn dies nie direkt ausgesprochen wurde.
»Wenn ein Fluchtkind all das erspürte«, führt Beutner aus, »konnte der Mutter manches nicht ›angetan‹ werden, was eigentlich zu der normalen Entwicklung eines Kindes
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