Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen
nicht aus, dass sie vom Vater getrennt war.«
Vom ihm kamen fast täglich Briefe, manchmal auch Päckchenmit Lebensmitteln. Dazu schrieb er, sie sollten anderen nichts davon abgeben. Ursula erinnert sich: »Ölsardinen kamen manchmal, irgendwelche Dinge, die er sich von seiner Ration abgespart hatte. Und da hab ich mir immer vorgestellt, dass er nicht satt wurde, aber uns das schickt. Das war so meine Kindervorstellung.« – Während eines Heimaturlaubs nahm der Vater sie mit zu einem Besuch beim Großvater. Was dort geschah, vergaß sie ihr ganzes Leben nicht mehr: »Der Papa hat dem Großvater etwas erzählt, etwas Schlimmes, was er als Soldat in Russland erlebt hatte. Und da haben beide Männer geweint.«
Zu Fuß von Thüringen ins Ruhrgebiet
Für unser Interview hat Ursula Henke Kaffee gemacht, und sie hat einen großen Umschlag mit der Aufschrift Post vom Vater bereitgelegt. »Das sind die wenigen Feldpostbriefe, die wir noch besitzen«, sagt sie. Bei Kriegsende kam keine Post mehr vom Vater. Ein Brief, den Ursula ihm geschrieben hatte, kam als unzustellbar zurück.
Die Familie befand sich im Mai 1945 in Thüringen, wohin sie ein weiteres Mal evakuiert worden war. »Wir sind dann zu Fuß nach Essen gelaufen«, erzählt Ursula nicht ohne Begeisterung in der Stimme. »Daran habe ich schöne Erinnerungen. Wir waren eine Gruppe von 13 Leuten, auch die Großeltern zogen mit.« Drei Wochen waren sie unterwegs. Am Abend wurde am großen Feuer gekocht. Sie übernachteten in Scheunen. »Für uns Kinder war das schön«, sagt Ursula. »Aber die Mama hat nachts geweint. Es war schlimm, dass ich ihr nicht helfen konnte . . .«
Nach dem Krieg waren sie bettelarm; dreimal ausgebombt, da bleibt nicht viel Besitz. Ursula bekam einen Mantel, der einmal eine Wolldecke gewesen war. Sie zog Unterhosen aus »Zuckersackwolle« an. Ihr Kommunionkleid hatten zuvor schon drei Cousinen getragen. Eine einzige frische Erdbeere aufs Brot geschnitten – was für eine Köstlichkeit! Die Mutter tauschte ihreLockenwickler gegen Kartoffeln und wickelte ihre Haarsträhnen auf Zeitungspapier.
Mit zwölf Jahren war Ursulas Kindheit vorbei. Vormittags nahm sie am Unterricht in einer Aufbauschule teil; für den Rest des Tages dachte und handelte sie wie eine Erwachsene. Dann bekam sie Typhus und musste neun Monate im Krankenhaus bleiben. Die Zimmer waren Baracken, vor den Fenstern befand sich ein Graben. Wenn ihre Mutter sie besuchte, musste sie hinter dem Graben stehen. »Es war eine richtig schwere Epidemie mit Toten. Abends waren wir zu elft im Zimmer, am nächsten Tag waren es nur noch neun.« Doch am meisten quälte Ursula, dass sie ihrer Mutter nicht beistehen konnte.
Nachdem das Mädchen auskuriert war, stellte sich heraus, dass sie in der Aufbauschule nicht mehr mitkam. Sie musste zurück auf die Volksschule. Zu den gravierenden Kriegsfolgen, die ihr weiteres Leben bestimmten, gehört, dass sie nur sechs Jahre lang die Schule besuchte. Zunächst arbeitete sie als Haushaltshilfe, dann gelang es ihr, weil ihre Schulunterlagen nicht so genau angeschaut wurden, in einem Bekleidungsgeschäft eine Lehre zu machen. Dabei handelte es sich um einen Familienbetrieb mit Tradition – und mit einem Sohn, der sich in Ursula verliebte. Sie heirateten jung, bekamen zwei Kinder.
Vom Vater kam kein Lebenszeichen mehr. »Wir waren felsenfest überzeugt, er kommt wieder! Jeden Morgen haben wir das von Neuem geglaubt. Jeden Abend waren wir enttäuscht. Dann haben wir gebetet und weiter gehofft.« Und gewartet. Zwei Jahre, fünf Jahre. Bei der Mutter dauerte das Warten ein ganzes Leben. Sie weigerte sich, ihren Mann für tot erklären zu lassen, verzichtete lieber auf ihre Hinterbliebenenrente. Der verschollene Vater blieb der große Schmerz in der Familie. »Manchmal«, erinnert sich Ursula, »haben wir regelrecht gesponnen und gedacht: Vielleicht hat er sich in Russland eine neue Frau genommen und hat da auch Kinder . . .«
Ursula Henke und ihr Mann führten eine glückliche Ehe, in der Privates mit dem Geschäftlichen verbunden war. Die entbehrungsreichenAufbaujahre machten sich bezahlt. Man arbeitete viel, aber man verdiente auch gut. Mit sechzig Jahren wurde Ursula Witwe. Der Tod ihres Mannes, um den sie lange trauerte, hatte zur Folge, dass auch der große Kummer über den Verlust des Vaters sie noch einmal einholte.
Im Jahr 1995 – die Mutter war schon tot – erhielten Ursula und ihr Bruder Klaus einen Brief der Kriegsgräberfürsorge. Darin
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