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Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen

Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen

Titel: Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Bode
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stand, dass Ulrich Henke Anfang der Fünfzigerjahre in einem russischen Lager verstorben war.
    Dennoch: Ursula ist dankbar. Bei allen Schwierigkeiten hat sie viel Glück gehabt. Wenn sie sich in ihrer Altersgruppe umschaut, dann weiß sie, wie leicht so ein Leben hätte missglücken können: Angesichts ihrer mangelhaften Schulbildung hätte sie arm bleiben können. Sie hätte den falschen Mann heiraten können, einen, der seine Frau mit dem Satz demütigte, dass sie »nur durch ihn etwas geworden« sei. Vielleicht hätte sie sich als alleinerziehende Mutter mit zwei Kindern durchschlagen müssen. Oder sie hätte aus falscher Rücksichtnahme gegenüber der Mutter ganz und gar auf eine eigene Familie verzichtet. Stattdessen war es Ursulas Mutter immer wichtig gewesen, dass ihre Tochter eine eigene Existenz aufbaute und dennoch das Vergnügen nicht zu kurz kam. Sie erinnert sich: »Wie oft hat die Mama die Kinder gehütet, damit mein Mann und ich tanzen gehen konnten.« Heute haben ihre Kinder selbst Kinder, und aus der Geschäftsfrau ist eine begeisterte Großmutter geworden.
Ein letzter Brief
    Am Schluss unseres Interviews geht Ursula Henke noch einmal die Feldpostbriefe durch. Den Umschlag mit der Aufschrift Post vom Vater habe sie im Nachlass ihrer Mutter gefunden, sagt sie. » Ich weiß noch jetzt – ich bin eine alte Frau! – die Nummer: 17 5 81. Das ist die Feldpostnummer!« Dann zeigt sie mir ihren letzten Brief an den Vater, jenen Brief, der als unzustellbar zurückgekommenwar. Lange hält sie ihn in der Hand, dann spricht sie aus, worüber sie nachdenkt: »Ich möchte nur mal wissen, warum mein kleiner Kinderbrief so zerfleddert ist. Die Post von meiner Mutter ist völlig in Ordnung. Aber sehen Sie das? Mein Brief ist total zerfleddert.« Dafür gibt es nur eine Erklärung: Ursulas Mutter muss den Kinderbrief wieder und wieder gelesen haben.

SIEBTES KAPITEL
    Kriegswaise: Die Suche nach der Erinnerung
Kinder, die verloren gingen
    Dass Kinder gänzlich verloren gingen, gehört zu den schmerzlichsten Erfahrungen bei Kriegsende. Sie verursachten tiefe seelische Wunden, über die später selten gesprochen wurde, oder ständig – wie in der Erzählung »Der Verlorene« von Hans-Ulrich Treichel. Der Schriftsteller zählt zu jener kleinen Gruppe jüngerer Autoren, die daran interessiert sind, die Spuren des Krieges auch bei den später Geborenen freizulegen.
    In der Geschichte »Der Verlorene«, 1999 erschienen, geht es um die erstarrten Beziehungen in einer Nachkriegsfamilie. Für die Eltern gibt es nur ein zentrales Thema: die Suche nach Arnold, dem Erstgeborenen, der im Januar 1945 auf dem Treck verloren ging. Die Erzählung erschließt sich aus der Perspektive von Arnolds jüngerem Bruder, der erst nach dem Krieg auf die Welt kam und keine wirkliche Existenzberechtigung in der Familie hat, weil ja der älteste Sohn noch nicht gefunden ist.
    Äußerlich sind alle Insignien des Wirtschaftswunders vorhanden, aber Mutter und Vater sind nicht in der Lage, mit ihrem Schicksal Frieden zu schließen. Über Jahrzehnte gehen sie jeder Spur nach, und sei sie noch so abwegig. Immer wieder stirbt eine Hoffnung, immer wieder baut sich eine neue auf. Besonders die Mutter des Erzählers kommt nie zur Ruhe, hängt sich an irgendwelche Illusionen, die sie als Realität definiert. Die panische Suche führt schließlich zu einem jugendlichen Findelkind, dessen Identität mit ungeheurem Aufwand geklärt werden soll. Die Eltern engagieren ein Detektivbüro und geben teure medizinische Gutachten in Auftrag. Das Schattendasein ihres jüngsten Sohnes haben sie nicht im Blick, und sie werden auch nicht von Verwandten oder Freunden darauf aufmerksam gemacht. Treichel beschreibt am Beispiel dieser Familie eine beklemmende Hohlheitdes Alltags, die in den Fünfziger- und Sechzigerjahren ein weitverbreitetes Lebensgefühl war.
    Nach dem Krieg, so die Statistik, war jeder vierte Deutsche auf der Suche nach einem Familienmitglied, oder er selbst wurde gesucht. In den Suchdienststellen des Deutschen Roten Kreuzes wurden 14 Millionen Meldungen registriert. Die Arbeit des Kindersuchdienstes ist auf bewegende Weise im Bonner »Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland« dokumentiert. Besucher behalten vor allem die alten Filmaufnahmen in Erinnerung: Kinder, die ihre Eltern suchen. Schüchtern blicken sie in die Kamera, nennen ihren Namen und den Ort ihrer Herkunft.
    Seit einigen Jahren schon besitze ich eine vom Bonner Museum

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