Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen
herausgegebene Broschüre über die Suchdienstkartei. Jedesmal wenn sie mir in die Hände fiel, dachte ich: Es ist gut, dass es wenigstens diesen einen Gedenkort im »Haus der Geschichte« für Kinder gibt, von denen sonst niemand spricht. Immer wieder schaute ich mir die Seite 27 an, mit den Fotos und Kurzbeschreibungen von zwanzig Kindern, und es wuchs in mir der Wunsch, wenigstens von einem der Abgebildeten die Fortsetzung zu erfahren. Schließlich wählte ich die Jungen mit ungewöhnlichen Nachnamen aus, und mithilfe einer Telefonauskunft-CD-ROM gelang es, sieben Adressen zu ermitteln. Ich schrieb sieben Briefe, ohne große Hoffnung, dass dieser Weg nach fast sechzig Jahren erfolgreich sein könnte . . . Aber ein Brief erwies sich als Treffer. Horst Omland aus Hannover rief an, unsicher, ob er wirklich der Gesuchte sei. Doch, sein Geburtsdatum und der Geburtsort Danzig stimme. Aber er wisse nichts von der in meinem Brief erwähnten Suchmeldung, weshalb er mich bat, sie ihm zu faxen.
Kurz darauf kam ein zweiter Anruf: Seine Augen seien zu schlecht, er könne nichts Genaues erkennen. Ich versprach, ihm eine vergrößerte Kopie zu schicken. Er bedankte sich und sagte: »Ja, ja, es hat keine Eile.«
Nachdem ich ihm die Suchmeldung per Post zugeschickt hatte, bekam ich von ihm die Kopie seines Wehrpasses von 1958, miteinem Passfoto, das ihn als jungen Mann zeigte. Er schrieb dazu: »Gleichen die Ohren denen auf dem Suchbild?«
Allerdings, so war es. Beim nächsten Telefonat erfuhr ich: Auch in seiner Familie seien Ähnlichkeiten festgestellt worden. Eines seiner beiden Kinder habe früher genauso ausgesehen wie der kleine Horst in der Suchmeldung. Doch mit dem Inhalt der Anzeige konnte Omland nicht das Geringste anfangen: Er wisse nichts über seine Mutter, auch nichts über Brüder, nichts über einen Fliegerangriff. Im Übrigen habe er Kontakt zu einer Frau aus Weimar, die behaupte, sie beide seien Geschwister, die schon als Säuglinge von ihrer Mutter in ein Heim gegeben worden waren.
Ausführliches Telefonieren war mit ihm nicht möglich, denn er litt seit seiner Kindheit an einem schweren Hörschaden, der sich, wie er glaubt, während lautstarker Bundeswehrmanöver noch weiter verschlimmert hatte.
Nach unseren Brief- und Telefonkontakten haben wir uns zweimal getroffen, in Hannover und in Weimar. Wenn man Omland persönlich erlebt hat, liegt es nahe, ihn als einen »zähenBrocken« zu bezeichnen. Er macht kein Geheimnis aus seinen chronischen Krankheiten. 100 Prozent Behinderung, so steht es in seinem Ausweis. Dass er dennoch sein Leben selbstständig bewältigt, empfindet er mit Recht als Leistung. Er braucht gleich zwei Hörgeräte, wegen seiner Sehbehinderung fährt er nur kurze Strecken mit dem Auto, er hat Diabetes und Bluthochdruck.
1986 erlitt er einen Schlaganfall. Danach war er stumm und taub. Aber er gab nicht auf, konsultierte einen Arzt nach dem anderen, bis sich herausstellte, dass der Schlaganfall durch einen Tumor in der Hypophyse ausgelöst worden war. Nach einer Hirnoperation gewann er die verlorenen Sprach- und Hörfähigkeiten wieder – allerdings blieb eine Sehschwäche zurück. Was niemand für möglich gehalten hatte: Er schaffte die Rückkehr in seinen Beruf, erreichte sogar noch eine Beförderung, bis er 1991 als Obergerichtsvollzieher in den vorzeitigen Ruhestand ging. Heute ist er Ende sechzig, ein großer und durch die Medikamente füllig gewordener Mann. Nach seinem Schlaganfall, sagt er, sei seine Ehe auseinandergebrochen, die Entfremdung habe sich schon vorher abgezeichnet. Aber er fühle sich nicht allein. Er habe zwei Kinder und vier Enkel, die in seiner Nähe wohnen. »So weit«, sagt er, »ist alles in Ordnung.«
Ein Lager in Dänemark
Seine ersten Kindheitserinnerungen beginnen 1945: das Schiff »Lappland«, das ihn nach Dänemark brachte, und das Kinderlager in Kopenhagen. Bei seiner Ankunft war er schon acht Jahre alt. Was war vorher geschehen? Welche Ereignisse waren so unerträglich, dass sein Gedächtnis sie nicht speicherte und dazu alle Eindrücke löschte, die ihnen vorausgegangen waren? Horst Omland weiß darauf keine Antwort. 1947 wurde er von einer Mitarbeiterin der Kindereinrichtung von Dänemark nach Deutschland gebracht. »Tante Jutta hat gesagt: Ich fahre zurück.Willst du mit? Damit war ich einverstanden«, erinnert sich Horst. Tante Jutta sei die Tochter eines Mennonitenpfarrers aus Monsheim bei Worms gewesen. Sie habe bei der Suche nach einer passenden
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