Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen
das gebrochene Deutsch und die verzweifelte Stimme eines älteren Mannes im Ohr. Ein Hilfeschrei von jemandem, der eines anderen Menschen Bruder sein könnte.
Dauernd lese ich das Ostpreußenblatt und endlich bin ich zu einem Schluß gekommen, daß Sie in meiner Sache mir helfen können. Es geht um die Feststellung – wer sind meine Eltern – wie heißen sie (ihre Vornamen?) . . . ich bin 66 Jahre alt, kranker Rentner, nach einer Krebsmagenoperation. Ich möchte noch beim Leben wissen, wie hießen, wer sind sie – meine Eltern, warum mein Vater hat mich ins Waisenhaus abgegeben? Ich bitte sehr, flehe Ihnen an um eine Hilfe in meiner Probleme. Meine Hoffnung bei Ihnen ist.
Mit vorzüglicher Hochachtung
Katczewski August
ACHTES KAPITEL
Nazi-Erziehung: Hitlers willige Mütter
Die Schule der Johanna Haarer
»Eine ungeheure weltanschauliche Wandlung vollzieht sich zur Zeit in unserem Volk. Neue Pflichten, neue Verantwortung warten auf jeden. Auf Frauen wartet als unaufschiebbar dringlichste die eine uralte und ewig neue Pflicht: Der Familie, dem Volk, der Rasse Kinder zu schenken.«
Dies schrieb nicht Adolf Hitler, sondern die Ärztin Johanna Haarer im Vorwort ihres Ratgebers »Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind« – eine der vermutlich folgenreichsten Veröffentlichungen im Dritten Reich. Sich heute mit Haarers Anleitungen zu Säuglingspflege und frühkindlicher Dressur zu beschäftigen heißt, besser zu verstehen, warum Menschen der Kriegskindergeneration häufig so merkwürdig unauffällig waren, warum sie sich selbst nicht wichtig nahmen, warum sie ihre Kindheit auch Jahrzehnte danach noch als »etwas ganz Normales« empfinden konnten.
Johanna Haarers Wissen über Kinder bezog sich nur auf ihre eigene Mutterschaft. Ausgebildet war sie zur Fachärztin für Lungenerkrankungen. Am längsten hielt sie sich in ihrem Buch mit dem Thema Reinlichkeit auf. Ihm widmete sie 25 Seiten. Für die Gedanken, die sie sich über die körperliche und die geistige Entwicklung machte, reichte eine halbe Seite. Ihre natürlichen Feinde sah Haarer in Zeitgenossen, die sich an den frühen Erkenntnissen der Psychologie und der Psychoanalyse sowie an der Reformpädagogik orientierten. In den Zwanzigerjahren gab es bereits Frauenkliniken mit Rooming-in und Dissertationen zur Notwendigkeit des Stillens gleich nach der Geburt, was – heute unbestritten – die Bindung zwischen Mutter und Kind stärkt und Stillschwierigkeiten verringert. Lange bevor die Nazis an die Macht kamen, war also schon viel über das Entstehen oder Verhindern der Mutter-Kind-Bindung nachgedacht worden.
Aber allein die Diskussion darüber war selbstberufenen Volkserziehern wie Johanna Haarer ein Dorn im Auge. Sie propagierte, dass das Kind erst 24 Stunden nach der Geburt erstmals die Brust bekommen sollte, und sie wurde nicht müde zu betonen, wie wichtig es sei, Mutter und Kind unmittelbar nach der Entbindung in getrennten Zimmern unterzubringen. Letzteres hielt sich in Deutschland bis in die Siebzigerjahre hinein. Erst dann kam es zu Überlegungen, ob dem Bedürfnis nach Nähe zwischen Mutter und Neugeborenem womöglich doch etwas Natürliches und Förderliches zugrunde liegen könne.
Haarer plädierte in ihrem Ratgeber ständig für »Ruhe«, was bedeutete, dass Babys im Wesentlichen sich selbst überlassen bleiben sollten. Gleichzeitig warnte sie vor einem Zuviel an Zärtlichkeit: »Vor allem mache sich die ganze Familie zum Grundsatz, sich nie ohne Anlaß mit dem Kinde abzugeben. Das tägliche Bad, das regelmäßige Wickeln des Kindes und Stillen bieten Gelegenheit genug, sich mit ihm zu befassen, ihm Zärtlichkeit und Liebe zu erweisen und mit ihm zu reden. Die junge Mutter hat dazu natürlich keine Anleitung nötig. Doch hüte sie sich vor allzu lauten und heftigen Bekundungen mütterlicher Gefühle.«
Auf Seite 248 heißt es dann: »Solche Affenliebe verzieht das Kind wohl, erzieht es aber nicht. Im Gegenteil. Wir haben schon darauf hingewiesen, daß es sehr oft schon frühzeitig zu förmlichen Kraftproben zwischen Mutter und Kind kommt. Auch wenn das Kind auf die Maßnahmen der Mutter mit eigensinnigem Geschrei antwortet, ja gerade dann läßt sie sich nicht irre machen.«
Bravo. Eine deutsche Mutter zieht ihren Stiefel durch. Es kann nach Haarer überhaupt nicht sein, dass ein Baby Grund hat, sich zu wehren. Dieser Fall ist bei ihr nicht vorgesehen. Eine deutsche Mutter kennt keine Fehler, außer dem einen: ihre Kinder zu
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