Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen
Trainingsprogramm von Johanna Haarer aus:
Beginnt man mit dem Abhalten, bevor das Kind sitzen kann, so faßt man es von rückwärts an beiden Oberschenkeln unter und hält es über das Töpfchen. Das Körperchen findet Halt an den Unterarmen der Mutter. Im Anfang ist es reiner Zufall, wenn die Entleerung ins Töpfchen erfolgt. Sobald das Kind zu pressen beginnt, sagen wir ihm immer den gleichen Laut vor, der eben in der Kinderstube für diese Verrichtung üblich ist – z. B. »A-aa« für Stuhl oder »bsch-bsch« für das Brünnlein.
»Das Kind nicht riechen können«
Wichtig sei, sagt Haarer, dass das Kind begreife, »dass die Entleerungen eine Pflicht sind, die es regelmäßig erfüllen soll«. Aber das reicht noch nicht. Die Babys sollen schon früh lernen, sich vor ihren Ausscheidungen zu ekeln. Und wie! Dazu noch einmal ein Haarer-Zitat:
Stellen wir ihnen die Durchnässung mit Harn, die Beschmutzung mit Stuhl und schlechte Gerüche als etwas Abscheuliches hin, und zeigen wir ihnen, daß derartiges immer sofort entfernt, beschmutzte Kleidung gewechselt werden muß. Wenn wir dies immer wieder unermüdlich tun, bekehren wir das Kind bald zu unserem Standpunkt. Eswird zunehmend unglücklich und unbehaglich, wenn es naß oder schmutzig ist. Es verlangt nach Sauberkeit. Haben wir es erst so weit, dann ist der Kampf schon halb gewonnen.
Wie solches Belehren Wirkung erzielen soll, ohne dass ein Kind sich abgewertet und abgelehnt fühlt, verriet die Autorin nicht. Sie konnte es vermutlich auch nicht, sprach stattdessen immer wieder von dem »berüchtigten Kleinkindergeruch«, was Sigrid Chamberlain zu der Feststellung veranlasst: »Haarer kann das Kind, kann Kinder nicht riechen, das macht sie an vielen Stellen deutlich.«
In ihrem 1997 erschienenen Buch »Adolf Hitler, die deutsche Mutter und ihr erstes Kind« hatte die Soziologin Chamberlain den Ratgeber als Teil des Nazierziehungsprogramms entlarvt. Sie sieht in den Handlungsanweisungen von Haarer vor allem »die Verhinderung von Liebesfähigkeit«; den Müttern sei nahegelegt worden, ihren Neugeborenen »das Antlitz zu verweigern«. Tatsächlich wird auf vielen Abbildungen im Buch das Baby sonderbar steif gehalten, was wenig Blickkontakt und kaum körperliche Berührung erlaubt. Hier wurde, so Chamberlain, »absichtsvoll zu Beginn des menschlichen Lebens Bindungs-, Beziehungs- und Liebesfähigkeit zerstört«.
In ihrem Ratgeber hatte sich Haarer mit dem Erziehungsziel der Nazis verbündet, wonach der Deutsche hart zu sich selbst und zu anderen sein sollte, aber auch opferbereit. Ihre Anleitungen zur Säuglingspflege förderten einen Menschentypus, dessen Beziehungsfähigkeit wenig ausgeprägt war. Dafür wurden schon früh die Weichen gestellt, vor allem dann, wenn es gelang, den Geruch eines Säuglings regelrecht zu verteufeln. Haarer wusste: »Ein richtig gepflegtes Kind riecht nicht!« Chamberlain wiederum setzt dem entgegen, dass der Geruchssinn eine wichtige Rolle im wechselseitigen Bindungsprozess zwischen Mutter und Kind spiele: »Spätestens vom fünften Lebenstag an erkennt der Säugling den Geruch seiner Mutter und wendet sich der Quelle dieses Geruchesspontan zu. Das Baby bevorzugt auch den Geruch seiner Mutter vor dem Geruch anderer Frauen. Mütter berichten ihrerseits häufig, daß jedes ihrer Kinder einen anderen Körpergeruch gehabt habe.«
Als ich Chamberlains Buch las, fragte ich mich, warum Haarers Ratgeber nicht schon von der 68er-Bewegung ausgegraben und angeprangert worden war. Deren Protagonisten sahen in der Kleinfamilie – also dem Milieu, in dem sie selbst groß geworden waren – ein Grundübel. Die neuen pädagogischen Experimente, das Entstehen der sogenannten Kinderläden in den Siebzigerjahren – dies alles entwickelte sich in krasser Abgrenzung zum autoritären Erziehungsstil der eigenen Eltern. Man wollte die Familie von »repressiven Strukturen« befreien. Die unentrinnbaren Abhängigkeiten der Kinder von ihren Eltern sollte es künftig nicht mehr geben.
Zu diesem Zeitpunkt war die Forschung darüber, wie frühkindliche Bindungen entstehen oder zerstört werden, noch nicht weit gediehen. Dass durch die Folgen der Nazipädagogik auch ihre eigene Bindungsfähigkeit Schaden genommen haben könnte, war den 68ern zunächst nicht bewusst. Nicht mit den Eltern über die Nazizeit reden zu können gehörte sozusagen zur familiären Grundausstattung der rebellischen Studenten. Aber wie Chamberlain zu bedenken gibt, hatte
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