Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen
verheiratet und hat eine ständig schnurrende überschlanke Katze. Das Interview findet in ihrer Wohnung statt, und im Verlauf des Nachmittags nimmt die Katze mehrfach auf Miriams Schoß Platz, als wolle sie das Geschehen unter Kontrolle behalten.
Die Tochter hat sich das Anliegen ihrer Mutter zu eigen gemacht. Denn auch die Jüngere leidet unter den blinden Flecken in ihrer Abstammung. »Manchmal frage ich mich, was ich wohl von meinen Großeltern mütterlicherseits habe«, erzählt sie. »Jetzt, würde ich sagen, bin ich das totale Mittelding zwischen meiner Mutter und meinem Vater. Aber dennoch beschäftigt man sich viel mit dem Unbekannten. Wie haben wohl deine Großeltern ausgesehen? Wo haben sie wohl gelebt und wie?«
Margot Bauer weiß nicht das Geringste über ihre Herkunft. Sie kennt nicht ihr genaues Alter, ja nicht einmal ihren richtigen Namen. Ihr Dasein entsprang, so muss es ihr vorkommen, irgendwo aus dem Nichts. Im Jahr 1945 wird sie aktenkundig, ein etwa dreijähriges Mädchen, namenlos. Es wurde in einem Kinderheim im ostpreußischen Götzendorf abgegeben. Vom wem? Unbekannt.
Margot Bauer ist damit einverstanden, dass zusammen mit ihrer Geschichte auch ein Foto veröffentlicht wird, das sie mit etwa 18 Jahren zeigt. Vielleicht, hoffen Mutter und Tochter, entdeckt ja jemand Ähnlichkeiten mit Mitgliedern der eigenen Familie oder in der Verwandtschaft, dann hätte man wieder eine winzige Spur . . .
Zweimal, 1997 und 1998, ist Margot Bauer mit Christa Pfeiler-Iwohn nach Ostpreußen gereist,auch nach Götzendorf. »Das Waisenhaus hat ja gar nicht mehr gestanden, das war kaputt«, berichtet sie, »aber ganz in der Nähe habe ich etwas erkannt, dieser Bauernhof, der stand noch.«
Ihre frühesten Erinnerungen aus dem Heim: Einmal ist das Bett unter ihr zusammengekracht. Und es gibt die Situation, dass ein Kind gebrochen hat, direkt neben ihr, auf dem Strohsack. »Es muss dann auch gestorben sein. Das war grausam. Es ist eben ein großes Glück, dass man es geschafft hat, heute noch zu leben.«
Ihre Erinnerungsbilder ergeben keinen Zusammenhang. Es sind flüchtige Momentaufnahmen, die eher verwirren als weiterhelfen. Aber Margot scheint froh zu sein, wenigstens diese zu besitzen. Denn sie beweisen, »dass da etwas war, früher«. Dass da mehr war als das Nichts. Margot und ihre Tochter haben sich schon so oft darüber ausgetauscht, und so ist das wenige, was die Mutter an Erinnerungen hat, auch in den Besitz der Jüngeren gelangt. Miriam erzählt: »Meine Mutter sprach von einem großen Haus, und davor hat sie auf einer Schaukel gesessen – deshalb frage ich mich: Haben die vielleicht einen Bauernhof gehabt?«
Für Margot sind die Bilder unscharf und so wenig greifbar wie im Traum. »Wie in der Ferne, so sehe ich meinen Vater, er hat einen Hut auf.« Dann folgt ein resigniertes Achselzucken. »Ich könnte jetzt keine Beschreibung von ihm geben.« Aber es stellt sich dazu ein immer wiederkehrendes Gefühl ein, und dieses Gefühl sagt ihr, dass sie ihrem Vater ähnlich sieht.
»Sie hat ja das Bild im Kopf!«, ergänzt Miriam. »Das Traurige ist nur, dass man so ein Bild nicht aus diesem Erinnerungsspeicher herunterladen kann. Stellen wir uns das mal vor: Wenn man das Bild jetzt ausdrucken könnte, dann hätte man endlich jemanden, nach dem man suchen könnte.«
Noch ein anderes Fragezeichen beschäftigt Mutter und Tochter. Margot Bauer mag nicht so recht glauben, dass ihr der Name erst im Kinderheim gegeben wurde. »Es ist doch selbst bei kleinen Kindern so, dass sie sich wenigstens an ihren Namen erinnern«, sagt die Mutter. »Und ›Margot‹ kommt mir überhauptnicht wie etwas Fremdes vor. Ich grübel ja immer viel, aber ich komme auf keinen anderen Namen, nix.«
Aus dem Kommentar ihrer Tochter wird deutlich, wie oft beide diese Frage schon hin und her gewälzt haben: »Sagen wir mal, es ist völlig offen. Es gibt ja keine Geburtsurkunde, keinerlei Infos, dass sie da mit irgendwelchen Papieren abgegeben worden ist. Irgendwann wurde sie halt so genannt. Aber ob sie selber gesagt hat: Ich heiße Margot, als sie gefragt wurde, oder ob ihr jemand den Namen gegeben hat, das ist völlig unklar.«
Ende der Vierzigerjahre kam Margot in ein Heim in Sachsen. Die Zeit der Einschulung wurde zum Problem, weil der Schularzt meinte, sie werde keiner Art von Unterricht je folgen können. Bei den Nachforschungen, die Miriam anstellte, kam heraus, dass der Arzt die kleine Margot für debil gehalten hatte. »Das
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