Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen
muss man sich mal vorstellen«, empört sich die Tochter noch heute.
Unter diesen Umständen bedeutete es für Margot eine große Chance, dass sie wenigstens die Hilfsschule besuchen durfte. »Da habe ich drei, vier Jahre ein bisschen Unterricht gehabt«, erinnert sie sich, »und dann kam ich in Stellung bei einer Familie, die hatte eine Gärtnerei: Ich hatte gerade das große A und das kleine a gelernt, und da musste ich schon auf die Berufsschule gehen . .. « Deshalb, sagt sie, habe sie später nie über ihre Herkunft reden wollen – weil eben ihr viel zu kurzer Schulbesuch damit zusammenhing.
Mit kleinem Gepäck allein in den Westen
Als Margot 18 Jahre alt war, beschloss sie, in den Westen zu gehen. Allein. Sie hatte nur einen kleinen Koffer und einen Rucksack bei sich. Miriam bewundert ihre Mutter für diesen Schritt: »Also, ohne einen Job in Aussicht zu haben, in die Fremde gehen, das finde ich wirklich gewaltig mutig, wenn man die Handicaps bedenkt.«
In der Bundesrepublik wurde der Jugendlichen als Erstes der Anspruch auf Waisenrente gestrichen, weil sie nach dem in derDDR geltenden Recht mit 18 schon volljährig war. Zuerst arbeitete sie auf einer Nordseeinsel als Küchenhilfe in einem Kinderheim. Nach einem halben Jahr kündigte sie, denn sie hatte von einer Fabrik mit Mädchenwohnheim im Frankfurter Raum erfahren, von einer Spinnerei, die Arbeiterinnen suchte. »Da habe ich einfach behauptet, ich hätte acht Jahre die Schule besucht und einen Abschluss gemacht. An die Zeugnisse in der DDR kam man ja nicht ran. Und da dachte ich: Warum soll ich denen die Wahrheit sagen . . .« Margot Bauer zeigt ein verschmitztes Gesicht. »Sonst hätte ich mir ja noch mehr geschadet im Endeffekt. Sonst hätte ich doch gar keine Arbeitsstelle bekommen, nix.«
Man merkt Margot an, dass sie durchaus stolz auf sich ist: »Ich hab mich durchgeboxt, irgendwie.« Mitte der Sechzigerjahre schrieb sie auf eine Heiratsanzeige und lernte auf diese Weise ihren späteren Mann kennen, Miriams Vater. »Aber leider«, ergänzt ihre Tochter, »war es nicht so, dass sie in meiner Großmutter väterlicherseits, sagen wir mal, eine gute Freundin und Mutter gefunden hätte. Die unklare Herkunft wurde eher als Makel verstanden.«
Und noch etwas anderes bedauert Miriam zutiefst: »Ich muss leider auch sagen, dass ich meine Großmutter bis zu ihrem Tod nie wirklich kennengelernt habe. Sie hatte sicher selber eine tragische Geschichte, ebenfalls durch den Krieg, und das hat sie wohl für den Rest ihres Lebens dermaßen verbittert, dass es sehr schwer war, an sie heranzukommen. Es sind wirklich tausend Fragen offen, auf die ich aller Wahrscheinlichkeit nach nie eine Antwort bekommen werde, weder von der einen noch von der anderen Seite.«
Bereits als Schülerin hatte Miriam ihre Mutter dazu gebracht, dem Suchdienst zu schreiben, in der Hoffnung, dass inzwischen doch noch weitere Hinweise aufgetaucht wären. Doch die Informationen blieben vage, unbrauchbar. Margot Bauer beschloss, ihren Fall ein für alle Mal abzuschließen, aber es gelang ihr nicht. »Irgendwann holt einen das wieder ein in den Jahren«, sagt sie mit einem Seufzer. »Da möchte man doch etwas aufgeklärt haben . . . Und dann ergab sich die ganz, ganz vage Hoffnung, jemand könnte mein Bruder sein.«
Ein Gentest wurde gemacht, der jede Partei 1500 Mark kostete. Aber es habe sich dann herausgestellt, so Miriam, dass die Wahrscheinlichkeit nahe null gehe. Es sei so ein Moment der Hoffnung gewesen, und dann sei es wieder abwärtsgegangen.
»Nicht zu wissen, wer man ist«, sagt Miriam, »ist, glaube ich, das Allerschlimmste daran. Das ist das Schreckliche: Es gibt eben nicht wirklich einen Trost.«
Margot Bauer hat sich nie damit abfinden können, dass sie ihre Herkunft nicht kennt. »Mit dem Alter«, sagt sie, »ist das Problem sogar noch schlimmer geworden. Man befasst sich immer mit diesen Gedanken, man möchte es verdrängen, man weiß, dass es ja nichts bringt. Aber das schafft man nicht. Und das macht einen manchmal auch krank.«
Bis heute also suchen Kriegswaisen nach Spuren ihrer Identität. Wer waren meine Eltern? Gibt es noch Geschwister? Das Grübeln über die eigene Herkunft hört im Alter nicht auf, im Gegenteil. Wenn man nicht weiß, wer man ist – wie soll man dann sein Leben zu einem guten Ende bringen?
Im Internet fand ich einen Brief, den August Katczewski an das »Ostpreußenblatt« geschickt hatte. Während ich ihn las, hatte ich den östlichen Akzent,
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