Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen
entstand das, was Christa Pfeiler-Iwohn heute als »gereinigte Biografie« bezeichnet. »Uns wurde dort sehr schnell nahegelegt, nie wieder davon zu sprechen, was wir beim Einmarsch der Roten Armee erlebt hatten.« Lehrer nahmen die Kinder beiseite und machten ihnen klar, dass es für sie das Beste sei, ein für alle Mal darüber zu schweigen.
Als Jugendliche dann flüchtete Christa in den Westen; es dauertenoch zwei weitere Jahre, bis auch ihre jüngere Schwester ausreisen durfte.
Vierzig Jahre später: Christa Pfeiler-Iwohn bekommt ein altes Foto zugeschickt. Es zeigt eine Gruppe von dreißig Kindern. Viele von ihnen haben übergroße Schädel, kurz geschorene Haare, Wasserbäuche, Beinchen so dünn wie Stöcke, gezeichnet von den Narben des Hungers. Ein solches Kind ist auch Christa gewesen.
Die Hamburgerin hat gute Kontakte zu anderen verwaisten Kindern aus Königsberg aufgebaut. Fast alle leben in der ehemaligen DDR, überwiegend in bescheidenen Verhältnissen. Kaliningrad erlaubt deutschen Besuchern erst seit Anfang der Neunzigerjahre die Einreise, und seitdem organisiert Christa Pfeiler-Iwohn Busfahrten für Personen, die noch weniger über ihre Herkunft wissen als sie selbst. Viele waren bei Kriegsende noch zu klein, um sich zu erinnern, wer ihre Eltern waren. Die Suchdienstkartei enthält nur vage Angaben, und manche erwiesen sich schlichtweg als falsch. Leider lässt sich im Nachhinein nicht feststellen, von wem sie stammen. Angesichts der chaotischen Zustände nach Kriegsende, als in kürzester Zeit Millionen Vermisstenmeldungen abgefasst wurden, sahen sich die Suchdienststellen nicht in der Lage, auch noch Hinweise über die Informanten festzuhalten.
Auf den Reisen mit Christa Pfeiler-Iwohn nach Ostpreußen werden stets die ehemaligen Kinderhäuser aufgesucht, werden Erinnerungen wie Mosaiksteine gesammelt – eine mühsame Spurensuche und eine seelisch ungeheuer anstrengende Rekonstruktion der frühen Lebensgeschichte. Auch beim Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes wird nochmals nachgefragt, obwohl nach sechs Jahrzehnten die Chancen gegen null gehen. Einige wenige Menschen haben durch Christa Pfeiler-Iwohn ihre Geschwister wiedergefunden, oder sie haben erfahren, wie ihre Eltern hießen. Andere hoffen noch, dass dies möglichst bald geschieht.
Bekannt ist, dass viele Kinder von Russen adoptiert wurden. Christa Pfeiler-Iwohn kämpft darum, an Archivmaterial heranzukommen,von dem sie ganz sicher weiß, dass es noch existiert: die Unterlagen über die Arbeit in den russischen Kinderhäusern. Es ist ein zähes Unterfangen. In Moskau stellt man sich stur, in Berlin ebenfalls. Für die Betroffenen liegt der Grund auf der Hand. Es sind nicht nur Frauen, sondern auch Kinder vergewaltigt und mit Geschlechtskrankheiten infiziert worden. Russische Ärzte haben die Mädchen in den Waisenhäusern untersucht und behandelt. »Wenn wir gefragt wurden, ob Soldaten uns etwas getan hätten, haben wir natürlich nein gesagt«, berichtet Christa Pfeiler-Iwohn. »Wir wussten ja nicht, dass man die Wahrheit durch eine medizinische Untersuchung feststellen kann.« Die Befunde stehen in den Akten. Womöglich wird der Kindesmissbrauch als politischer Sprengstoff eingestuft. Damit möchte sich weder die russische noch die deutsche Seite konfrontiert sehen, nun da inzwischen die Beziehungen so freundschaftlich sind.
Aber Christa Pfeiler-Iwohn hält dagegen: Um in Ruhe alt werden zu können, brauchen Menschen ihre komplette Biografie, ohne leere Stellen, ohne Schatten. Das gehört zu den Menschenrechten.
Eine fürsorgliche Tochter
Zu den Kindern, die nicht gesehen wurden, zählt Margot Bauer aus Frankfurt. Ihr Gesichtsausdruck bleibt während unseres Gesprächs freundlich, aber schüchtern. Eine Frau um die sechzig, mit schlechter Schulbildung, wie sie ungefragt zugibt. Sie sieht nicht aus, als hätte sie ein leichtes Leben gehabt. Sie ist häufig krank gewesen – und auch heute alles andere als gesund. Aber sie geht auf ihre Beschwerden nicht weiter ein. Das Leben, sagt sie, habe es dennoch gut mit ihr gemeint. Sie schaut ihre Tochter dankbar an. Eine wunderbare, fürsorgliche junge Frau steht ihr zur Seite.
Bei den etwas komplizierteren Themen hilft Miriam weiter. »Mutter und ich haben noch eine einzige Chance«, sagt sie. »DieChance besteht darin, dass jemand sie sucht und dass das zusammenpasst.«
Miriam ist eine tüchtige, agile Frau, Mitte dreißig, die in der Pressestelle einer Behörde arbeitet. Sie ist
Weitere Kostenlose Bücher